Während Shandria im Brachland war…
‘‘Wann?’’
‘‘Vor zwei Jahren etwa…’’ antwortete der alte Elf und sah Dante eingehend an. Er suchte in den Augen des Kriegers nach Anzeichen der Traurigkeit, oder sowas wie Mitleid, vielleicht wenigstens etwas Mitgefühl und… fand nicht mal einen Hauch davon. Dann nickte er leicht, seufzte leise und seine Stimme wurde nun trocken und geschäftsmäßig: ‘’…und er hinterlässt Euch alles.’’ Der Fremde holte eine alte, verwaschene Ledermappe hervor, legte sie auf den Tisch, schnürte sie auf und begann ihren Inhalt herauszuholen, in dem er jedes Schriftstück einzeln rausnahm, kurz begutachtete, sorgfältig vor Dante hinlegte und kommentierte, was es genau war.
Dante hatte den Anschein nichts zu hören und nichts zu sehen, was vor seinen Augen sich gerade abspielte und auf seinem Tisch sich ausbreitete. Zugegeben, war auch er dabei nach irgendetwas tief in eigener Seele zu forschen, was dem Gefühl der Anteilnahme oder gar Trauer sich ähnelte. Vergebens. Er empfand nichts davon. Stattdessen verspürte Dante eher etwas ganz anderes. Zorn. Grenzenlose Verachtung. Er war von dem Gedanken angewidert, dass sein Gegenüber ihn zu irgendeiner Spielfigur in einem Spiel, was er nicht ganz verstand - einer Art… Scharade -, zu machen schien. Wut stieg und wuchs in Dante auf, drückte gegen die Schädeldecke und wollte nichts anderes als nach draußen.
‘‘Warum?’’ fragte der Krieger brüsk und verengte die Augen.
‘‘Nun…’’ Der alte Elf erstarrte sofort in seiner Haltung, wobei er das nächste Dokument zwischen Daumen und Zeigefinger in der Luft hielt und war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er es ebenfalls auf den Tisch ablegen sollte, oder lieber doch nicht. ‘‘Ihr seid der letzte Nachkomme…’’
‘‘WAAARUM?’’ unterbrach Dante den Alten. Er zog das Wort in die Länge und sein Ton nahm gewaltig an Schärfe zu. Wut pulsierte darin. ‘‘Warum lässt Ihr diesen… Papierkram nicht dorthin verschwinden, wo es herkommt. Und die Mappe selbst - hartes Leder, wie ich sehe - schiebt Ihr Euch einfach quer in eu…’’
‘‘HÖR AUF,’’ Atalantas laute, schallende Stimme tat den Ohren weh und Dante spürte den Druck der Fingernägel ihrer Hand auf seinem Unterarm. ‘‘Schluss damit.’’ Ihr tadelnder Blick lastete auf dem Krieger, wurde aber seinerseits nicht erwidert. Seiner… bohrte sich in den alten Elfen wie ein Korkenzieher, wo dieser reingehört. Dann wand sich die Elfe ihrem Besucher zu und ihre Stimme wurde diesmal sanfter. ‘‘Bitte, verzeiht. Mein Bruder…’’ wieder ein flüchtiger und vorwurfsvoller Blick in Dantes Richtung: ‘’… hält sich für witzig.’’ Lana begann zu zischen, die Worte quälten sich mühsam durch ihre Lippen: ‘’… hat aber oft schlechte Angewohnheit nur… komisch zu werden.’’ Dann fuhr sie fort in ihrer unerschütterlichen Gelassenheit, wie man es von ihr schon immer kannte. ‘‘Wir haben unseren Großvater nie kennengelernt und unsere Eltern haben nicht viel von ihm gesprochen.’’
‘‘Bitte,’’ unterbrach sie der alte Elf höflich und machte mit der flachen Hand abwehrende, fast entschuldigende Geste in der Luft. ‘‘Es gibt nichts zu Verzeihen, junge Lady.’’ Müdes Lächeln umspielte seine Lippen. ‘‘Ich muss sogar zugeben, dass ich mit viel schlimmerem Empfang gerechnet habe. Und trotzdem hatte ich nie etwas anderes vorgehabt, als… herzukommen, so wie es mir von meinem Herren aufgetragen wurde.’’ Er verstummte und schaute Dante lange und beinahe gierig an, bevor er fortfuhr: ‘‘Aber ich sah bereits meinen Untergang in den Augen dieses jungen Mannes - für mich ein überdeutliches Zeichen dafür, dass wir heute hier kaum voran kommen werden.’’ Er schob sich zusammen mit dem Sessel etwas vom Tisch weg, stand aber noch nicht auf. ‘‘Ihr beide werdet in der nächsten Zeit über vieles nachdenken müssen. Und wenn ihr euch wieder gefasst habt, werdet ihr es mich wissen lassen. Wir haben dann viel zu bereden.’’ Er machte eine Pause. Seine hellgrünen Augen waren einzig und allein auf Dante gerichtet. ‘‘Ihr… und ich.’’
Die große Standuhr schlug die siebte Abendstunde und machte Dantes Absicht, seine Gefährtin noch vor Beginn des Rates im Brachland einzuholen, völlig zunichte. Shandria wollte mit Tauren reisen. Das bedeutete: Dridi, Willbur, Ryland und die anderen und vor allem… Sicherheit. Lady Irya ist ebenfalls dabei und das heißt im Ganzen: Shandi würde an Nichts fehlen. Und das war gut, ein beruhigender Gedanke. Nur das Ganze… leider ohne ihn.
Dante stellte fest, dass er diese Erkenntnis hasste. Alles, was er unbedingt noch vor der Abreise erledigen wollte, war getan. Rascher stand für den Weg gefüttert und gesattelt… Er steht immer noch so da, fiel Dante plötzlich ein. Und als er das Haus verlassen wollte - mit mehr als genug Zeit im Gepäck -, tauchte seine Schwester wie aus dem Nichts auf… zusammen mit dem seltsamen Begleiter, der dringend einige Familienangelegenheiten regeln wollte. Ja… der Fremde. Was will er? Was hat er vor? Hunderte von Fragen jagten Dante und erst jetzt bemerkte er, dass der Alte weiter sprach. Er sprach schon die ganze Zeit.
‘‘Aber Ihr habt und seid nun mal das, was auf diesem… Papierkram - wie ihr es so schön formuliert habt - steht.’’ Der Fremde erhob sich langsam. Ohne seinen Blick von Dante abzuwenden, schob er eins der Schriftstücke näher zu ihm und tippte mit dem Finger auf den unteren Teil des Dokuments, wo die Unterschrift des Lordregenten sich unmissverständlich abzeichnete. Dante erkannte Lor’themars vertraute Schrift augenblicklich. Die Geschwister sagten nichts, sahen den Alten nur an, der wie ein Lehrer über ihnen stand und weiter seinen langweiligen Lehrstoff in die Köpfe zweier närrischer Schüler rein hämmerte. ‘‘Doch bevor ich gehe,’’ sagte der Fremde schließlich:’’ will ich euch noch eine Kleinigkeit da lassen. Das soll vielleicht helfen eure Gedanken zu ordnen. Um euch, so zu sagen… auf den richtigen Weg zu bringen.’’
Der alte Elf griff noch ein letztes mal in seine Tasche und holte zuerst einen, zweiten und dann noch dritten sorgfältig ineinander gepressten und akkurat gebundenen Stapel Briefumschläge. Alle drei knallte er nacheinander auf den Tisch und schob sie anschließend näher an die Zwillinge heran.
‘‘Was ist das?’’ fragte Dante leise und schaute den Fremden verblüfft an.
‘‘Was scheint es… zu sein?’’
‘‘Briefe, natürlich,’’ stellte Lana fest, nahm eins dieser Bündel an sich und drehte es in ihren Händen hin und her. ‘‘Aber… es müssen hunderte sein.’’
‘‘Vollkommen richtig, junge Lady,’’ sagte der Alte. Sein Gesicht war ruhig und gelassen, aber die Stimme begann zu beben und verlor mit jedem weiteren Wort an Festigkeit. ‘‘Es sind… EURE Briefe an… euren Großvater.’’ Er verstummte und sah ein Augenblick gedankenverloren über die Zwillinge hinweg, zum offenen Fenster hinaus und schien in eigenen Erinnerungen zu versinken. Dann nickte er und murmelte kaum hörbar, eher zu sich selbst: ‘‘es sind wirklich sehr schöne Briefe. Oft… herzzerreißend, möchte ich sagen.’’
Sowas mit dem Wort ‘‘Sieg’’ zu bezeichnen, wäre ganz bestimmt übertrieben, wahrscheinlich gar unangemessen gewesen. Ein Erfolg? Ich weiß es nicht. Nennen wir es den Effekt der Überraschung, oder deren nachhaltige Wirkung. Und sie war phänomenal.
Verwundert und zugleich amüsiert sah der alte Elf zu, wie die Gesichter der Geschwister fast synchron sich in Länge zogen, wie ihre Augen schon auf schmerzhafte Weise beinahe unnatürliche Größe annahmen und wie ihre Kinnladen aufklappten. Mit schwachem, gequältem Lächeln sah er zu, wie die beiden auf einmal die Briefe anstarrten, dann einander anschauten, und dann wieder die Briefe, und… wieder sich selbst mit dem ‘‘Hast du?’’-’‘Nein… du?’’-’‘Natürlich nicht’’- Geflüster. Anschließen wanderten ihre Blicke zu dem Fremden rüber und alle drei verharrten ein Moment. Dante erlang seine Fassung als Erster.
‘‘Das verstehe ich nicht,’’ sagte er.
‘‘Ich auch nicht,’’ warf Lana ein.
‘‘Aber wir… haben es verstanden.’’ Der Fremde seufzte wieder und sein Lächeln verschwand. ‘‘Wir wussten, dass er diese Briefe selber schrieb. Bei seinen langen Spaziergängen warf er sie ein. Am nächsten Tag bekam er sie per Post wieder, manchmal mehrere am Tag.’’ Der Alte machte eine Pause und holte tief Luft. ‘‘Und dann las er sie uns vor. In seiner eigenen Welt schwärmend - wie diese sein könnte -,las er jeden dieser Briefe ‘‘von euch’’ vor… in seinem recht kleinen Freundeskreis, der ihm am Ende noch geblieben war. Ja, wir wussten es und haben alle mitgemacht.’’ Seine Stimme begann zu zittern und brach beim letzten Wort ab. Der Alte sah Dante schweigend an und wartete auf den Urteil.
Die Worte des Alten schallten noch in Dantes Kopf. Er betrachtete den Fremden mit verengten Augen und suchte in seinen nach Lügen. Er fand keine. Und während er das Gesagte noch mal im Sinn wiederholte, griff Lana voller Ungeduld nach einem der Bündel, schnitt die Schleife durch, nahm den gleich oben liegenden Briefumschlag und riss ihn auf.
Sie hielt den Brief in ihren Händen als wäre er etwas zerbrechliches, äußerst wertvolles und seltenes, das man nur einmal in seinem Leben überhaupt in den Händen halten darf. Sie las schweigend, bewegte nur ab und zu lautlos die Lippen unter dem abschätzenden, neugierigen Blick ihres Bruders. Manche Stellen ging sie mehrmals durch und merkte selbst nicht, wie ihr Atem sich beschleunigte, Augen feucht und mit jeder weiteren Zeile Gesicht immer blasser wurde. Dantes Augen wichen nicht von ihren. Und obwohl er nicht wusste, was in diesem Brief stand, spürte er, wie beißende Vorahnung in sein Eingeweide kroch.
Lana faltete den Brief mit zitternden Fingern so gut sie konnte wieder zusammen, legte ihn auf den Tisch ab und sah zu ihrem Bruder auf. Das Flackern in ihren Augen, verriet ihm, flüsterte ihm zu, schrie… nur eins: ‘‘Mach keinen Mist, Großer.’’ Und hinter dem Schleier aus Nässe, der diese Augen bedeckte, in Lanas erstauntem Blick, sah Dante einen alten Mann in seiner Einsamkeit sterben. Einen alten Mann, dessen Gesichtszüge seinen so ähnlich waren…
Dante verspürte einen tiefen, stöhnenden Stich, vorwurfsvollen Schmerz in seinem Inneren. Er warf einen flüchtigen Blick zu dem Fremden, der geistesabwesend wie ins Leere vor sich her starrte, und empfand unvorstellbaren Leid, das ihn wie eine glühende Klinge aufspießte. Und es brannte im ganzen Körper… und ließ das Herz in der Brust schmelzen. Und er schämte sich… bis auf die Knochen und tiefer.
Dann erhob sich Dante. Er baute sich wie Gebirge vor dem Alten auf, legte seine rechte Hand auf die Brust überm Herzen und ließ den Kopf senken. ‘‘Unsere Begegnung nahm einen schlechten Anfang,’’ sagte er mit fester Stimme. ‘‘Über Euch zu urteilen war zu voreilig und stand mir überhaupt nicht zu. All das Gesagte, jedes Wort und der Ton, der diese begleitete, tun mir aufrichtig leid.’’ Er hob seinen Blick und schaute dem Fremden direkt in die Augen. ‘‘Bitte… vergibt.’’
Der alte Elf sah Dante unverhohlen an und nickte anerkennend. ‘‘Unser Gespräch… nahm einen schlechten Anfang. Unsere Begegnung stand unter einem guten Stern, mein Herr Dante. Aber für einen, der Stolz seinen Volkes und die Sturheit seines Vaters in sich trägt, die Worte der Reue auszusprechen ist eine bemerkenswerte Fähigkeit.’’
‘‘Die Fähigkeit solche Worte anzunehmen, ist viel größere,’’ erwiderte Dante, sah aber zu, wie der Alte abwinkte, und verstummte.
‘‘Aber ich wiederhole mich dies mal gerne,’’ sagte der Fremde und lächelte aufrichtig: ‘‘es gibt nichts… zu verzeihen.’’ Er machte eine knappe Verbeugung. ‘‘Es war viel für heute, und dass wir soweit kommen, hatte ich mir nicht mal in Träumen erhofft. Trotz allem, was zwischen den beiden vorgefallen war, hatte mein Herr euren Vater nie aus seinem Herzen verbannt, wisst ihr… Und bitte, sucht nicht nach Antworten in den Gefühlen, die gerade vielleicht aufkommen, oder es werden. Es ist auch keine Frage, ob ihr mir glaubt oder nicht und auch nicht eurer Überzeugungen, sondern… des Verstehens.’’ Ein weiterer tiefer Seufzer entfuhr ihm. ‘‘Wenn ihr soweit seid, sehen wir uns wieder und… ich erzähle euch den Rest.’’ Der Fremde verneigte sich tief zum Abschied und wand sich dem Gehen zu.
‘‘Wartet,’’ schrie Lana heraus. ‘‘Bitte… bleibt.’’
‘‘Und spricht,’’ forderte Dante. Der Alte wirbelte auf Absätzen seiner Stiefel herum.
‘‘Dann… fragt.’’
‘‘Dann erzählt,’’ sagte Dante und machte eine einladende Geste mit der Hand, wieder Platz zu nehmen. ‘‘Erzählt uns endlich davon, was damals passiert war, was unserem Vater sein Titel und sein Erbe kostete. Und beginnt damit, in dem Ihr von… Eurem Herren spricht.’’
Der Fremde ging der Aufforderung gern nach und ließ sich auf den Sessel nieder. Er brauchte ein Augenblick, um eigene Gedanken zu ordnen, schloss die Augen, machte sie wieder auf und sah die Geschwister durchdringend an. ‘‘Dann hört zu…’’