Großes für die Kleinen
Teil I: Orgrimmar 
Es war ein Morgen wie jeder andere in Orgrimmar. Oder jedenfalls schien es auf den ersten Blick so: Es hing wieder einmal dieser feine rote Staub in der Luft, der vom Wind aus der trockenen Wüste Durotars manchmal bis in die Stadt hinein getragen wurde. Er sammelte sich an den steilen Wänden der gewaltigen Schlucht, in deren Schutz Orgrimmar erbaut worden war. Fuhr ein Karren oder marschierte eine Abteilung Grunzer auf ihrer stündlichen Patrouille vorbei, wirbelte er auf und setzte sich auf die Kleidung und zwischen wirklich jedes Haar. Aus dem ‚Wyvernschweif‘ tönte bereits bierschweres Gelächter, während die Essen der Schmieden langsam angeschürt wurden und das Schlagen eifriger Schmiedehämmer durch das Viertel der Handwerker klang. Ja, es war ein ganz normaler Morgen in Orgrimmar, wenn die Hauptstadt der Horde erwachte…
Jedoch …
… fielen einige wenige Stimmen nicht in den allgemeinen Reigen mit ein: „Ruhe, Kinder, Ruhe! Erst werden die Betten gemacht, dann gibt es Frühstück! Seit der Belagerung von Orgrimmar habe ich ja nicht mehr so einen Schweinestall gesehen!“, rief Tosamina die quirlige Schar ihrer kleinen Schutzbefohlenen in den Räumlichkeiten des Waisenhauses zur Ordnung. „Wer ein starker Teil der Horde werden will, geht sich jetzt die Hauer putzen und zieht danach seine hoffentlich gesäuberten Stiefelchen an, ist das klar?“, mahnte sie weiter und hier und da bekam sie auch ein piepsiges „Jawohl, Tosamina!“ zurück. Dann stellten die Kleinen sich gehorsam auf und vor allem die etwas älteren übten sich schon einmal im Salutieren! Tosamina schmunzelte gutmütig. Ihr Ton war bisweilen harsch, aber im Herzen liebte sie jedes einzelne dieser Waisenkinder so sehr, dass sie ihr Leben geben würde, um es zu beschützen.
Lange Kriegszeiten und vor allem die frühere Belagerung der Stadt hatten so einen Ort traurigerweise nötig gemacht, an dem die Kinder der Horde untergebracht und umsorgt werden mussten. Tosamina und die Vorsteherin des Waisenhauses, Waisenmatrone Schlachterbe, gaben sich alle Mühe, das zu tun - aber wer konnte schon die richtigen Eltern ersetzen, auch wenn man die besten Absichten dafür hatte? Das konnte man nicht, aber es wenigstens zu versuchen, den Unschuldigen und Verwundbarsten ein gutes Leben zu bieten, das war es, um was es hier ging.
Das Schloss an der Haustüre wurde nun auch entriegelt und die Matrone öffnete sie einen Spalt, um den neuen Morgen hereinzulassen. In der Nacht war es immer gut gesichert, damit nichts und niemand je in dieses Haus eindringen würde. Draußen schleppten gerade mehrere Peons Getreidesäcke Richtung Aufgang zu den oberen Ebenen vorbei. Vermutlich Nachschub für ‚Borstans Feuergrube‘, dem Koch der orcischen Infanterie, der oberhalb des Waisenhauses seine Küche betrieb. „Wir brauchen mehr Schweinespeck, die Kinder werden langsam immer größer und essen mehr. Du musst nachher die Höfe in der Umgebung abreiten, ob uns wer zu einem günstigen Preis mit einem Eber aushilft. Das Geld ist knapp. Ich werde nachher in die Feste Grommash gehen und sehen, ob ich nicht eine Erhöhung unserer Unterstützung herausschlagen kann.“, brummte Matrone Schlachterbe und verschränkte die Arme, während sie den Peons missmutig hinterher sah. Erst gestern hatte Borstan dafür gesorgt, dass auch das Waisenhaus einen Getreidesack bekam, aber er war schon wieder halb leer und alle Gaben reichten einfach hinten und vorne nicht.„Die Horde gibt zwar einmal im Jahr während der Kinderwoche etwas an die Unschuldigen zurück, aber … es muss mehr getan werden. Ich hoffe, Du hast Erfolg!“, sprach Tosamina und schlug sich fest die Faust vor die Brust, als brächte dieser Gruß der Ehrerbietung das nötige Glück für das Vorhaben der Matrone.
Ja, einmal im Jahr die Aufmerksamkeit aller zu erhalten reichte einfach nicht und je älter die Kinder wurden, desto mehr würden sie das wohl auch langsam spüren.
Doch an diesem Morgen versiegte das fröhliche Lachen der Kleinen noch nicht, wie sie sich am Waschzuber drängelten, um das widerspenstige Haar zu kämmen und die kleinen Hauerchen ordentlich zu polieren, wie es sich für angehende Schlachtenfürsten und heldenhafte Wolfsreiter ja schließlich gehörte! Kleine Rangeleien gehörten auch immer dazu, denn ‚Mut und Ehre‘ übten sich schließlich nicht früh genug. Tosamina nahm all das mit Wohlwollen und Dankbarkeit hin, denn wie viele Kinder hatten es im Krieg schließlich nicht mehr bis hierhin geschafft, wo sie sicher waren.
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Derweil etwas entfernt im Tal der Ehre …
Baron Arem’thas Nexusgrund, Anführer des Bundes der ‚Silberfeder‘, trat aus der Tür des ‚Wyvernschweifs‘ und blinzelte etwas übernächtigt gegen die Morgensonne an, deren lange Strahlen gerade genau in sein edles Gesicht fielen - ganz so, als wollten sie den Elfen necken, weil er offensichtlich in der vergangenen Nacht zu tief in den Humpen geschaut hatte. Er streckte sich leicht und ließ die linke Schulter kreisen, unterdrückte dabei ein Gähnen und versuchte auch das Knacken in seinem Rücken zu ignorieren, das sich dabei hören ließ. Die Hängematten nach sicherlich gewissenhaft bester Seilflechtkunst der Tauren gefertigt, waren einfach nichts für ihn und er sehnte sich nach seinem weichen Bett in der Silbermonder Residenz. Aber Arem’thas war in früheren Jahren als Blutritter, bevor er sein Erbe als geborener Baron antrat, nicht nur ein Adeliger sondern auch ein Mann des Krieges gewesen. Die Zeiten im Feldlager fühlten sich aber gerade in diesem Moment besonders fern und schon lange vorbei an. Bevor er sich jedoch weitere Gedanken darum machen konnte, ob seine Abhärtung langsam schwand, wurde sein Schatten auf der hölzernen Treppe vor dem ‚Wyvernschweif‘ plötzlich überlagert: Von einem noch viel dunkleren, breiteren und vor allem größeren Schatten: Gron’mak Sturmbinder, Stellvertreter des Barons bei der ‚Silberfeder‘, trat neben ihn und tat dann genau das Gleiche wie der Elf: Die Schulter kreisen lassen. Dann rückte der gewaltige Mag’har sich mit der Pranke noch einmal den Kiefer zurecht, schob ihn von links nach rechts und schließlich wieder zurück. Auch da knackte irgendwo etwas. „Irgendwie klingt es seltsam, wenn ein Elf sagt ‚Ich bin zu alt für sowas‘ … aber ich bin es ganz gewiss. Bei den Ahnen, was für eine Nacht!“, gluckste er Arem’thas an und der hob schmunzelnd einen Mundwinkel, sah zu dem orcischen Freund neben sich hinauf. „Habe ich das denn gesagt …?“, erkundigte er sich amüsiert und Gron’mak bejahte knurrend. „Mehrfach, das wisst Ihr wohl nicht mehr, Baron. Ich glaube, der letzte Humpen war dann doch einer zu viel für Euch!“, kam es zu des Elfen Leidwesen zurück und er verlagerte sich räuspernd sein Gewicht, stellte sich in militärisch strammer Haltung kerzengerade auf und verschränkte die Arme hinter dem Rücken als wolle er im nächsten Augenblick eine Ansprache an sein Heer halten. Das Kinn mit dem modisch gestutzten Bart reckte sich leicht in die Höhe und für Augenblicke wirkte Arem’thas wieder wie der stolze, unnahbare Blutrittermeister, der er gewesen war. Doch dann sanken die Schultern wieder ab. „Ja, verdammt nochmal, ich glaube, Du hast Recht.“, lachte er und löste die Körperspannung auf. „Komm, machen wir uns auf den Heimweg. Ich bin sicher, die Baronin wartet bereits auf mich. Und Gron’mak, sie muss übrigens nicht unbedingt etwas von unserem kleinen Gelage erfahren, ja? Wir haben einfach wie geplant auschließlich Eisen- und Kupfererze für Ausbesserungsarbeiten an den technischen Gerätschaften der ‚Silberfeder‘ eingekauft und sonst nichts.“, beschwor er den Mag’har.
Gron’mak hob die wulstigen Brauen. „Mit Verlaub. Baron, ich glaube, ihre Ladyschaft hätte selbst nichts gegen ein Gelage gehabt. Manchmal möchte man glauben, sie wäre trinkfester als wir beide zusammen.“, raunte er und schickte sich dann an, die Holztreppe hinab auf die Straße zu steigen.
Die Geschichte von Gron’mak und dem kleinen Torik
„Ich muss mich jedoch entschuldigen von der gemeinsamen Heimreise. Ich möchte noch im Waisenhaus vorbei gehen.“, sprach er dann und klopfte dabei auf eine lederne Tasche, die über seiner Schulter hing. Arem’thas folgte dem Orc die Treppe hinab und nickte. „Gewiss, wie Du willst. Jedoch erlaube mir die Frage: Haben wir nicht erst nach dem letzten Siegelmarkt etliche Münzen aus den Einnahmen der Manufaktur Sonnenwend ans Waisenhaus gespendet und vorbei gebracht?“, erkundigte Arem’thas sich und Gron’mak wog den schweren Kopf. „Das haben wir, Baron, jedoch … so großzügig die ‚Silberfeder‘ stets mit Spenden wohltätige Einrichtungen unterstützt, habe ich festgestellt, das es gerade im Bezug auf das Waisenhaus nicht immer nur an barer Münze fehlt. Tosamina und die Matrone Schlachterbe tun, was sie können, aber sie brauchen mehr Unterstützung. Von allem brauchen sie eigentlich mehr. Geld, Nahrungsmittel, Spielzeug, Platz. Und Zeit. Ja, vor allem mehr Platz und mehr Zeit. Ihr wisst sicher, dass dieser Troll … Zekhan … der ihnen eine Weile geholfen hat, nicht mehr da ist. Er ist jetzt Botschafter der Horde in Zandalar. Es gibt da im Waisenhaus diesen Jungen, Torik. Einer aus meinem Volk. Ein kräftiger kleiner Bursche, fehlte ihm nicht ein Fuß, den er schon kurz nach der Geburt beim Angriff der Geißel im Brachland verloren hat. So ein verfluchter Ghoul hatte ihn gepackt und wollte ihn in der Luft fressen. Seine Mutter konnte ihn zwar dem Biest entreißen, bevor sie selbst getötet wurde, aber diesen Tribut musste er bezahlen. Er leidet sehr darunter, nun kein großer Krieger mehr werden zu können, weil er nicht vernünftig laufen kann. Er hat diese winzige Holzkrücke, sonst könnte er vermutlich gar nicht mal aufstehen, aber viel schlimmer für einen Orc als einen Fuß zu verlieren ist der Umstand, seine Träume und die Aussicht auf ein Leben als Kriegerheld einbüßen zu müssen. Zekhan hat Torik jeden und jeden Tag Geschichten von Hochfürst Saurfang erzählt. Und niemand konnte sie besser erzählen als dieser Troll. Torik hing an seinen Lippen und auch wenn er schon jedes Wort von Zekhans Erzählungen auswendig kannte, so wollte er sie doch immer wieder auf’s Neue hören. Nun … ich kannte Saurfang gewiss nicht so gut wie Zekhan, aber auch ich kenne die Geschichten um ihn. Wie er zehn Feinde auf einmal mit einer Faust zerschmettern konnte, wie er Sylvanas in einem der glorreichsten Mak’goras aller Zeiten bloßstellte und wie er in Tirisfal ganz allein der Allianz entgegen trat. Und ab und zu, wenn ich die Zeit finde, bringe ich den Kindern des Waisenhauses ein paar Bücher vorbei und lese ihnen vor. Erzähle ihnen eine der alten Geschichten. Ich wünschte nur … es gäbe mehr Bücher und mehr Geschichten, die man ihnen vorlesen könnte. Aber das Geld, das sie haben, muss eben für Lebensmittel aufgewendet werden, damit sie was zu futtern haben für ihre kleinen Mägen. Ihre Träume stehen da nicht an erster Stelle.“, erläuterte der große Mag’har.
Arem’thas hörte ihm stumm und aufmerksam zu. Schließlich senkte er betroffen das Haupt, zog sich den goldenen Reif, den er als Zeichen seines adeligen Standes trug, aus dem Haar und drehte ihn nachdenklich in den Händen. „Ich verstehe, Gron’mak. Zeit ist ebenso wichtig wie Essen, damit Kinder Träume haben können und um ihr ehrenvolles Erbe wissen. Erst das macht eine Kindheit vollständig. Ich würde gern mit Dir kommen.“, beschloss Arem’thas und nur zu gerne nahm Gron’mak dankend an.
So machten sie sich dann beide auf den Weg zum Waisenhaus. Die Türe war schon für den Tag geöffnet und innen bemühte Tosamina sich die Kinderschar irgendwie im Zaume zu halten und zu Disziplin beim Frühstück anzuhalten. Sie schien im Augenblick auf sich selbst gestellt zu sein, während die Matrone in wichtiger Angelegenheit unterwegs war, und zwei Dutzend Händchen und Ärmchen griffen nun allein nach ihr um an einen Becher Milch, ein Stück Honigbrot oder ein kräutergebackenes Ei zu kommen. Und danach warteten dann vermutlich ein Berg Geschirr und Wäsche so hoch wie der Nimmerlaya auf sie. Dazu musste der Boden gefegt und dann schon an die Zubereitung des Mittagessens gedacht werden. Ja, die Zeit, die Zekhan sich zum Geschichten erzählen genommen hatte, war für Tosamina nicht da und fehlte schmerzlich.
Vor der Tür des Waisenhauses lagen ein paar Spielzeugschwerter und Keulen aus Holz herum, gerade groß genug für Kinderhände. Ein kleiner Schild mit dem leicht schief aufgemalten Symbol der Horde war auch dabei. Abgenutzt sahen die Übungswaffen aus und nicht unwahrscheinlich war es, dass man Gefahr lief, sich kleine Splitter einzuziehen. Alles schien hier mittlerweile einfach in die Jahre gekommen zu sein und als Arem’thas sich bückte, um den runden Schild aufzuheben, bemerkte er, dass der Halteriemen auf der Rückseite nur noch an einer Öse hing. Er holte tief Luft, während er das Spielzeug nachdenklich betrachtete. Und als er es wieder senkte, sahen plötzlich zwei große bernsteinfarbene Augen zu ihm auf. „Machst Du einen Übungskampf mit mir?“, tönte es irgendwo auf Hüfthöhe aus dem Gesicht eines Orcjungen zu ihm hinauf. Es brannte Kampfeslust in den kindlichen Augen und sie blitzten neugierig und fröhlich auf. Arem’thas lachte. „Sicher. Ich hoffe, ich kann gegen einen kleinen Krieger wie Dich auch bestehen und mache dem Orden der Blutritter nun keine Schande.“, zwinkerte er und ließ sich auf ein Knie hinab, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein. Dabei senkte er den Holzschild ganz und bemerkte, dass der Kleine sich mit der rechten Achsel auf eine Krücke stützte. Das rechte Bein war abgewinkelt und der Fußstumpf verbunden. Es musste wohl Torik sein, dachte Arem’thas. Doch die Versehrung tat seinem Eifer keinen Abbruch. Herausfordernd knurrte er den Elfen an und schlug dann auch schon gleich mit geballter Faust nach ihm, so dass Arem’thas den Schild hob und sehr behutsam den Hieb abfing. „Warte, warte, man greift doch keinen Unbewaffneten an!“, lachte er und zog sich dann zwei der Holszschwerter heran, die auf dem Weg lagen. Eins gab er Torik, das andere behielt er selbst.
Es war ein spaßiger kleiner Kampf, den sie da führten und Arem’thas hätte wohl nicht damit gerechnet, dass Torik doch so fest zuschlagen konnte - und zwar mit allem, was er aufbieten konnte. Er war die Schwertkunst eines Paladins gewohnt, doch hier musste er feststellen, dass auch gezielte Tritte und Beißversuche zum Regelwerk zu gehören schienen. Vor allem, als sich dann noch weitere Kinder dazu gesellten und den Blutelfen regelrecht umrissen, in dem sie sich an seine Arme und seine Schultern hingen. Aus hockender Position das Gleichgewicht verlierend fiel er tatsächlich nach hinten um! Doch Arem’thas nahm seine Behandlung mit Humor hin, auch als man mit lautem „Gewonnen, gewonnen!“-Rufen herzlich über ihn triumphierte. „Nun ist aber gut, ihr zahnlosen Welpen. Lasst den Mann wieder aufstehen!“, türmte sich Gron’mak da über der Kinderschar auf, deren begeistertes „Kriegsgebrüll“ in der ganzen Gasse widerhallte. Eins der Mädchen packte Gron’mak gar hinten am Kragen und stellte es schmunzelnd eine halbe Armlänge neben Arem’thas wieder auf den Boden, dann reichte er dem Baron die kräftige Hand hinab, um ihm aufzuhelfen.
Der klopfte sich erst einmal den Staub von den feinen Gewändern, aber natürlich hatte er seine Niederlage nicht übelgenommen. Über eine schmerzende Stelle am Oberschenkel, die vermutlich zu einem ordentlichen blauen Fleck führen würde, sah er tapfer hinweg. Gron’mak hob ihm auch gleich den wulstigen Zeigefinger entgegen - und das nicht ohne Stolz auf die Nachkommenschaft des orcischen Volkes. „Alles schon kleine Wolfsbändiger und Grunzer.“, lachte er und Arem’thas konnte nur beeindruckt zustimmend nicken. Nicht umsonst wurden die Orcs auch als der ‚Schild der Horde‘ bezeichnet und früh übte sich da offenbar schon gewaltig.
Doch auch Gron’mak selbst blieb nicht von der Begeisterung über Besuch im Waisenhaus verschont. Zumal man ihn dort bereits ja auch schon kannte und so war er prompt selbst einen Moment später von etlichen Kindern umringt, die vor ihm auf und abhüpften: „Gron’mak! Hast Du uns ein neues Buch mitgebracht? Liest Du uns etwas vor? Erzählst Du uns eine Geschichte? Ja! Ja! Eine Geschichte! Oder ein Heldenlied! Sing’ uns ein Heldenlied!“, rief und plapperte es da nur so durcheinander. Doch in der Tat hatte Gron’mak ein neues Buch dabei: Er zog es aus der Tasche, die er mitgebracht hatte und setzte sich etwas schwerfällig auf eine der Stufen vor dem Waisenhaus. „Ist es ein Buch über Hochfürst Saurfang?“, fragte einer der Jungen und kletterte sogleich auf des Mag’hars linkes Knie, um sich den besten Platz beim Vorlesen zu sichern. „Nein, heute hören wir mal keine Geschichte über den Hochfürsten, aber über einen anderen großen Helden der Horde. Lasst uns gemeinsam über Orgrim Schicksalshammer lesen, denn schließlich sind wir ja hier in …?“, fragte Gron’mak. „Orgrimmar, Orgrimmar!“, tönte es zurück. „Richtig, in Orgrimmar!“
Dann begann Gron’mak zu lesen und Arem’thas verweilte etwas abseits, störte ihn auch nicht dabei. Vielmehr hörte er sehr genau zu und beobachtete, wie sich immer mehr Kinder draußen vor der Tür des Waisenhauses sammelten, während Tosamina drinnen alles in Ordnung brachte, schließlich im oberen Stockwerk die Fenster öffnete und die mit Stroh gefüllten Matratzen zum Auslüften hinaushing. Arem’thas fiel dabei auch auf, wie schief einige der Regale im Inneren des Raumes standen. Wenn es denn überhaupt Regale gab. Die Inneneinrichtung schien gerade das Nötigste abzudecken und gewiss wären ein größerer Tisch und ein paar neue Stühle auch angeraten. Er schlenderte schließlich in das Waisenhaus hinein und da Tosamina ihn auch nicht wieder gehen hieß, sah er sich alles genau an. Immer nachdenklicher wurde er dabei. Tatsächlich hatte die ‚Silberfeder‘ in der Vergangenheit immer wieder Geld zur Unterstützung gesammelt, aber es wurde immer sofort aufgebracht. Hier waren langfristige und stete Investitionen nötig, vielleicht sogar eine generelle Überholung und ein Anbau - keine weiteren Tropfen auf heiße Steine mehr. Man könnte die Räumlichkeiten vergrößern, wenn man das Haus weiter in den Felsen hineintrieb, an den es nur angebaut war. Mehr Platz zum Spielen und zum Vorlesen schaffen. Ja, man könnte hier so einiges tun - wenn es nur das nötige Geld dafür gäbe. Und zwar einen ganz schön großen Batzen davon!
Schließlich verließ er das Haus wieder. Gron’mak saß immer noch auf der Treppe, schien aber langsam zum Ende seiner Geschichte zu kommen: „… und gab mit letzter Kraft seine Rüstung und seine Waffe an Thrall weiter und ernannte ihn zu seinem Nachfolger.“ Damit klappte er das Buch zu und sah die Kinder an. „Übrigens trägt Thrall auch heute noch Orgrims Rüstung.“, merkte er an und sofort erscholl ein „Orgrimmar, Orgrimmar!“, bevor sich die kleine Zuhörerschaft auflöste und davonstob, um sich zu bewaffnen: „Ich bin Orgrim, Du bist Lothar!“ „Grrrr, ich will aber nicht Lothar sein! Der war ein Mensch und Hauer hatte er auch nicht!“, ging es nun hoch her und sowohl Gron’mak als auch Arem’thas mussten erneut herzlich lachen.
Der Einzige, der nicht aufgestanden war, um mit seinen Freunden lauthals durch die Gasse zu toben, war Torik. Er saß still weiterhin neben Gron’mak auf der Treppe und nahm sich vorsichtig das Buch vom Schoß des Mag’hars. „Hier, ich hab’ Dir noch etwas anderes mitgebracht, Torik.“ , sagte Gron’mak als er es bemerkte und griff noch einmal in seine Tasche. Er holte ein in Leder gebundenes Buch heraus. Es war sehr neu, noch völlig ungebraucht und der kleine Orc nahm es mit großen Augen entgegen. „Aber … da steht ja gar nichts drin?“, fragte er, nachdem er es sofort eifrig aufgeschlagen hatte. Gron’mak schüttelte den Kopf. „Nein, tut es nicht, aber das muss ja nicht so bleiben. Ich finde, Du könntest es mit Geschichten füllen. Ich weiß, Du denkst Dir manchmal welche aus während Du Deinen Freunden zusiehst, wie sie alte Heldenkämpfe nachspielen. Da, so wie jetzt gerade, auch wenn sie scheinbar alle gleichzeitig Orgrim sind und so nur ganz viele Orgrims gegeneinander kämpfen.“, schmunzelte er. Torik nickte verstehend. „Danke, Gron’mak. Garta nennt sich im Augenblick nur noch ‚Garta Grimmfaust vom Klan der Waisen‘, vielleicht schreibe ich etwas über sie.“, nickte er lächelnd und Gron’mak legte ihm die Hand auf die Schulter. „Vom Klan der Waisen …“, wiederholte er mit tiefem, anteilnehmenden Brummen und richtete die alten Augen auf Arem’thas. Des Elfen Lächeln verblasste in diesem Augenblick und er schlug den Blick zu Boden. „Klan der Waisen.“, flüsterte auch er ergriffen und atmete tief durch. Diese Worte rührten ihn auf einmal zutiefst an. Das spürte er schmerzlich im Herzen und er würde sie vermutlich auch nie wieder vergessen.
Er machte langsam ein paar Schritte auf Gron’mak und Torik zu und hob dabei ein geschnitztes Holzmesser vom Boden auf, das er überlegend von allen Seiten betrachtete. „Gron’mak … bevor wir gleich nach Hause gehen, müssen wir noch einmal in die Schmiede zurück. Das bereits gekaufte Eisenerz und Kupfer reichen mir noch nicht, wir brauchen noch etwas Silber.“, verkündete er und Gron’mak hob fragend die Brauen. „Silber, Baron? Wofür?“ Arem’thas gab ihm den hölzernen Dolch. „Du tust etwas sehr Schönes für das Waisenhaus und die Kinder, Gron’mak. Aber wir werden mehr tun. Wir werden etwas Großes tun. Und ich weiß auch schon, was das sein wird. Und wann.“, nickte er entschlossen. Gron’mak erhob sich, nahm seine leere Tasche wieder an sich.
Auch Tosamina trat in diesem Moment auf die Türschwelle, hörte noch die letzten Worte des Barons und sah ihn ebenso neugierig an wie der Mag’har. „Was ist es denn?“. wollte sie wissen und Arem’thas bat sie nun beide mit einer einladenden Geste zurück ins Haus.
Er erzählte den beiden, was er plante. In einem Monat würde es soweit sein. In einem Monat würde er an die gesamte Horde appellieren, etwas für den „Klan der Waisen“ zu tun. Etwas Großes.
Etwas Großes für die Kleinen …