IC Kurzgeschichte zu dem Thema:
Eine Tür schließt sich…
Es war die Nachricht, vor der jeder sich fürchtete. Verhangen war der Tag gewesen, kalt die Nacht. Die letzten Winde des Winters wehten durch den halboffenen Zelteingang hinein und brachten das Licht der einzigen Kerze, welche die improvisierte Schreibstube aus einer Kiste und einem kleinen Hocker erhellte. Die Schlafstätte der Ritterin war dahinter aufgebaut. Ungenutzt, obwohl es weit nach Mitternacht war.
Obwohl Cyria nur noch die dick gefütterte Unterkleidung, die sie immer unter dem Gambeson trug am Leib hatte, fror sie nicht. Nicht äußerlich. Doch in ihrem Innersten war es seit wenigen Stunden enorm kalt geworden. Der Brief, den sie sorgsam gefalten auf dem Tisch abgelegt hatte, wirkte abgegriffen. Dabei hatte sie ihn erst heute geöffnet. Gelesen. Gefalten. Wieder geöffnet. Gelesen. Gefalten. Ein niemals enden wollender Prozess, während ihr Verstand im Zeitraffer die Phasen der Trauer durchspulte.
Es konnte nicht wahr sein.
Es durfte nicht wahr sein.
Was, wenn es doch wahr war?
Schwärze.
Und letztlich die bittere Erkenntnis. Es sollte so kommen. Es musste so kommen. Keine Mutter sollte ihr Kind zu Grabe tragen – so hieß es immer. Doch niemand sprach darüber, wie schwer der Schmerz wog, wenn eine Tochter ihre Mutter zu Grabe tragen sollte.
Cyria wusste nicht, wie oft sie den Brief schon geöffnet hatte an diesem Abend. Und doch tat sie es wieder. Nicht dieses schmucklose, stumpfe Schreiben von irgendeinem Dornenmeer, dessen Sauklaue niemand entziffern konnte. Diese Worte waren belanglos. Nein. Was zählte, war der Brief, welcher dem Schreiben beigelegt wurde, wo die wunderschöne, geschwungene Handschrift ihrer Mutter zu lesen war.
„Meine Liebe Cyria,
Ich hoffe, du musst diesen Brief niemals lesen. Denn wenn du es tust, bin ich nicht mehr auf dieser Welt und kann mein letztes Versprechen, dass wir uns gegeben haben nicht halten. Das Versprechen, das wir uns jedes Mal geben, wenn ich dich besuche. Dass es nächstes Mal nicht so lange dauert, bis wir es wieder einrichten können.
Es tut mir Leid. Ich weiß, dass ich nicht die beste Mutter dieser Welt war. Aber nach dem Tod deines Vaters waren wir beide auf uns allein gestellt. Du warst auf dich allein gestellt. Du warst – und bist – mein Licht in der Dunkelheit. Mit dem Gewissen, dass du über diese Welt wachst, habe ich keine Nacht gefürchtet, keinen Tag bereut und keine Stunde gezweifelt, dass bessere Zeiten in Aussicht stehen.
Und das tun sie, da bin ich mir ganz sicher. Ich bin so unfassbar stolz auf das, was aus dir geworden ist. Ich weiß, dass das nicht mein Verdienst ist. Und ich hoffe, ich konnte in den letzten Jahren vieles wiedergutmachen. Doch es wird nie genug sein. Es war nicht genug.
Ich habe deinen Speer mit Stolz getragen. Doch wir beide wissen, welches Risiko wir eingegangen sind, als wir uns diesem Leben verschrieben haben.
Es tut mir Leid. Hätte ich die Wahl gehabt, hätte ich dich überlebt, damit du diese Traurigkeit in deinem Herzen nicht fühlen musst. Nicht noch einmal.
Aber wir haben es einmal überwunden – und ich bin mir sicher, dass du es auch dieses Mal überwinden wirst. Du bist stark, kleine Goldmaus. Viel stärker, als ich es jemals war.
Fürchte nicht die Nacht. Wenn du das nächste Mal zum Himmel siehst und die Sterne Lordaerons verhangenen Himmel durchstechen, dann sei dir gewiss – ich bin da. Und ich wache über dich. Egal, wo du auch bist.
Zusammen mit Papa.
Ich liebe dich,
Velynia“
Tränen fielen auf das abgegriffene Papier. Hastig klappte Cyria den Brief wieder zu und zog die Nase hoch. Nur keine Tränen. Tränen ruinierten das Papier. Und dieses Papier war mehr wert, als alle Beförderungen und Urkunden, die sich irgendwo in der staubigen Kiste unter ihr gesammelt hatten.
Fest presste sie den Brief an ihre Brust, während der Atem fahrig die Lungen vollsog.
„Ich hätte dich auch lieber überlebt…“, murmelte sie in brüchiger Stimme. Und zog abermals die Nase hoch. „Ich hoffe, du findest ihn da oben. Egal, wo du jetzt bist.“
Abermals ein Schluchzen. Schritte. Rasch wischte sie sich mit dem Ärmel die ungeschminkte Augenpartie trocken, ehe ein vertrautes Räuspern vor dem Zelt erklang. Sie wandte sich nicht um. Sie wusste, wer vor dem Zelt stand.
„Klingenherz? Wollt ihr das Zelt nicht…“, hakte der betagte Mensch nach. Besorgt. Unruhig. Sie wandte sich nicht um.
„Es ist alles gut, Crowley. Ihr könnt gehen.“
Ihre Stimme klang harscher, als sie sollte. Sie zog Schweigen nach sich. Dann ein zustimmendes Brummen.
„Wenn ihr jemanden zum Reden braucht, dann…“
„Geht. Bitte.“
Dieses Mal sollte es harsch klingen. Harsch, streng und einfordernd. Der Tonfall dessen, zu dem sie geworden war. Und er zeigte Wirkung. Den Salut hörte sie noch hinter sich, ehe die Schritte sich entfernten.
Erst Herzschläge später wandte sie sich um und spähte durch den halboffenen Zelteingang. Die Schwärze der Nacht erdrückend. Das dichte Wolkenkleid ließ kaum ein Licht durch den finsteren Himmel. Kaum. Ein einzelner, strahlend heller Stirn stand mittig zwischen den beiden Rändern der Zeltplane. Stellenweise wurde er vom flackernden, weißen Banner mit dem in schwarzer, sternförmiger Umrandung eingefassten goldenen Punkt verdeckt.
Ein einsamer, strahlender Stern inmitten von Dunkelheit.
Doch sie fürchtete sich. Sie fürchtete sich vor all den Jahren, die kommen würden. Ohne sie.