Der Sturz
Der Wind wehte über die Klippen der pandarischen Küste, brachte das Geräusch der anbrandenden Wellen und den Geruch von Salz und Meer ins Land. Die Sonne stand fast auf ihrem Zenit und wärmte den nahrhaften Boden mit ihren Strahlen, während Vögel mit ihrem Gesang die Luft schwängerten. Das Gras und die Blätter der Bäume raschelten leise im Wind, doch sonst war es ruhig, still und idyllisch.
Der Elf, welcher an der Klippe stand, konnte dies jedoch nicht zu schätzen wissen. Tatsächlich bemerkte er es gar nicht. Seine Welt hatte weder Farbe noch Ton. Wärme, Klang, alles fehlte. Die Welt war grau, lediglich eine Anreihung von formlosen Figuren, die keinen Sinn machten. Mussten sie auch nicht. Sein Blick aus dem viel zu alten Augen streiften den Horizont, doch sahen sie nichts, was Sinn ergeben würde. Weder für ihn noch für sonst irgend wen. Und wieder schloss Kendo die Augen und atmete tief durch.
„Ich höre sie nicht. Niemanden. Alle sind fort. Sogar ihre Namen fallen mir nicht mehr ein. Wer bin ich? Was bin ich?“
Seine Gedanken waren verhangen und voller Nebel. Vieles, was er wissen sollte, verbarg sich, und das, was er wusste, war so bruchstückhaft, dass der Meister es nicht zusammensetzen konnte. Meister. Was ein Hohn. Er war nicht mal ein Meister seiner Gedanken, geschweige denn… Ja. Was genau, eigentlich? Was hatte dieser Elf so gut beherrscht, dass ihn auszeichnete? Was hatte ihn abgehoben? Nein. Es kam nicht zurück – ein weiterer Teil seines Seins, hinter Nebeln. Wie diese Insel es so lange war. Passend.
Langsam kroch der Blick des Einsamen zu seinen Füßen. Und darüber hinaus. Die Klippe vor ihm, das Wasser, tief unter ihm. Er war schon viel zu lange hier. Nein, das stimme nicht. Kendo war nicht da. Denn „Kendo“ war vor langer Zeit verstorben. Das hier, das war nur noch seine sterbliche Hülle, welche sich an diese Welt klammerte. Unfähig, den letzten Schritt zu gehen, unfähig, sich selbst zu überwinden. Der Meister war nur noch ein Körper, sein Geist war bereits erloschen.
„Ich konnte keinen meiner Eide halten… Ich habe das hier verdient…“, murmelte der Mönch und schloss die Augen. Er spürte selbst nicht mal, wie er den Schritt nach vorne machte, und der Wind, welcher ihm entgegen schlug, war auch nicht wirklich anders – während der Elf sich von der Klippe in die Tiefe stürzte, hinab auf das Meer und tödliche Felsen. Das war sein Ende. Sein verdientes, kaltes, einsames Ende.
„Wirklich, Kendo? Das ist das, was du willst?“
Die Stimme kam aus dem Nichts – und doch fühlte der Elf, wie die Zeit um ihn gefror. Er öffnete die Augen, doch die graue Welt, die er erwartet hatte, sie war fort. Nein. Er hing, in einem Moment der Klarheit, in der Luft, die Klippe unter ihm, das Meer über ihm. Doch sah der Elf nicht wirklich das, was da war. Nein. Er sah einen Raum, klassisch nach pandarischer Art aus Holz gefertigt. Und in der Mitte des Raumes stand seine einzige Vertraute, die er bis zum Schluss gehabt hatte, bis auch sie ihn verlassen hatte. Der Körper war halb durchsichtig, doch der Blick aus den Augen, welche ihn nun anschauten, war derselbe wie damals.
Arashi stemmte die Pfoten in die Hüften, und ihre Mimik hatte diesen alten, tadelnden Ausdruck, mit dem sie ihn immer bedacht hatte, wenn er etwas Dummes getan hatte. Zugegeben, recht oft, wenn er mit Senlin unterwegs gewesen war. Seine Mundwinkel zuckten, und das erste Mal seit Wochen, nein, Monaten breitete sich ein Lächeln auf der Mimik des Elfen aus. „Arashi…“, murmelte er, bis ihm ihre Frage wieder einfiel. „Ist es das? Einfach so? Hier? Allein? Wie ein Feigling?“, fragte die Pandaren, und ihr Blick zeigte eine Spur Enttäuschung. „Du bist so viel Besser als das. Du solltest nicht hier sein. Nein. Du solltest bei deiner Familie sein, und ihnen beistehen. Dein Leben fortführen, und Andere zu unterrichten, ihnen beizubringen, nicht deine Fehler zu machen. Doch du? Versteckst dich hinter Schriften, Training, hinter all diesen Dingen, gehst nicht raus, redest nicht, isst wenig… Was ist aus dir geworden? Wo ist der Kendo, den ich kenne? Wo ist mein Freund hin?“
Der Elf erstarrte. Er war nicht verblendet genug, um nicht zu wissen, dass das sein Kopf war. Er hatte so lange seine Gefühle, seine Gedanken abgetötet. So lange war er nicht er selbst gewesen, zerfressen von Schuld, Trauer und anderen, düsteren Gedanken. Der Elf hatte vergessen, was es hieß, Hoffnung zu tragen, Stolz, Freude – all das hatte er verschlossen, nachdem er seine letzte Freundin als verloren erklärt hatte. Er war erblindet, die Realität hatte einfach aufgehört. Er hatte es nicht mehr gewagt, sich zu öffnen, hätte er doch nur wieder alles verloren. Wie verblendet er doch gewesen war.
Er ballte die Faust, als er die Augen öffnete und das Meer auf sich zurasen sah. Die Steine, sein kalter, nasser Tod, sein Grab. Unabwendbar, rasant näherkommend, und nun bemerkte er, wie Reue in ihm aufstieg. Reue, Trauer, aber da war noch etwas. Etwas trieb ihm die Tränen der Wut in die Augen. Wut über sich selbst, Wut über das, was er hier grade tat. Entschlossenheit. Der Wille, zu leben. Und der Drang, nicht einfach jetzt sein Leben zu beenden. Seine Augen, seine eigentlich vorher so leblosen und kalten Augen, flammten auf, und ein nie dagewesenes Feuer brannte dort, wo vorher nur triste Dunkelheit geherrscht hatte. Er biss die Zähne zusammen. Nein. Nicht so!
Er streckte beide Hände aus, und ein Schwall an Chi brandete hervor und hüllte ihn ein, fing ihn auf und bremste ihn, bis Kendo auf einem der Steine unten an der Klippe aufkam und sich abrollte. Er kam auf dem Knie zum Halt und hob den Kopf. Das laute Rauschen der Wellen. Das kalte Wasser auf seiner Haut. Der Geruch nach Salz, nach Wasser und dem Land über ihm. Das Licht, welches warm auf seiner Haut auftraf, und die raue Oberfläche der Felsen unter ihm. Alles kam so schlagartig zurück, dass es ihn überwältigte, ihm Tränen der Freude in die Augen trieb. Er hatte es vermisst zu Leben.
Kendos Blick heftete sich an die Klippen. Ohne zu denken, stieß er sich ab, sprang nach oben und griff die untersten Steine noch aus der Bewegung. Dann ging es weiter, halb gezogen, halb gesprungen, immer weiter hinauf. Jede noch so kleine Kante wurde mitgenommen. Jeder Griff saß. „Siehst du, Arashi, immer hast du mich besorgt angesehen, wenn ich sowas gemacht habe. Aber jetzt? Jetzt hast du mich animiert. Ha!“, keuchte er leise, während ein breites Grinsen sich auf seinem Gesicht festwurzelte. Auf halber Strecke hielt er inne. Eine Hand am Felsen, wandte er sich halb ab und blickte hinaus, aufs Meer. Strahlendes Blau, abgeschlossen von mehr strahlendem Blau, durchsetzt vom Weiß der Wolken. Der Wind strich durch seine langen Haare, und brachte das neue Gefühl von Leben in Wallung, welches ihn erfasst hatte. Weiter grinsend machte sich der Mönch an den Rest der Kletterpartie. Seine Energie war wieder da. Sein Geist brannte wieder.
Es dauerte nicht lange, und seine Hand griff in Gras, und der Elf zog sich oben wieder auf die Klippe. Keuchend kroch er einen Meter und kippte dann in das weiche Bett der Pflanzen, drehte sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Seine Hände brannten, seine Lunge schrie nach Luft und seine Arme und Beine zitterten von der Kletterpartie, doch es fühlte sich alles so gut an. So richtig. So lebendig. Jeder Muskel, jede Faser seines Körpers brüllte heraus, dass der Elf sich nicht verloren hatte, dass sein Geist doch letztlich über seinen Zweifel gesiegt hatte. „Oh, Niuzao, vergib mir meine Zweifel an mir selbst, ich habe deine Lehren missachtet“, keuchte der Meister leise, den Blick nach Oben gewandt, durch das Dach der Blätter in das Blau des Himmels. „Ihr Erhabenen, wie konnte ich nur so verblendet sein… Ich habe so viel wiedergut zu machen. So vieles…“, flüsterte er, ehe er sich aufrappelte und zu seinem Stab ging, mit großen, ausladenden Schritten. Er griff nach dem Schilfhut, welchen er daran gehängt hatte, und stülpte ihn sich über den Kopf, ehe er mit zwei Fingern über die Krempe strich und den Hut gewohnt in die Stirn schob. Seine Augen funkelten, tief eingesunken in dem alten Gesicht, voller Tatendrang und Kraft, wie sie schon lange nicht mehr aus ihm gestrahlt hatte, und er griff nach einer seiner Flaschen, um sie zu entkorken und das erste Mal seit fast einem halben Jahr einen Schluck Bier zu trinken. Er hatte es vermisst, dachte der Elf, während er den Stab schulterte und sich auf den Weg in den Wald machte, zurück auf seinen Weg. Den Wind der Hoffnung in seinem Rücken, und ein Ziel vor Augen.
Er war zurück. Und besser als jemals zuvor.