[A-RP] Die andere Seite der Straße

Am Anfang war es leicht.
Nicht nur leicht, es war toll! Klar, mal wieder hatte er seine Stelle verloren, aber was hieß das schon? Das war er gewohnt. Arbeit gabs wie Sand am Meer und ein bisschen was hatte er sich ja angespart. Genug für ein gemütliches Zimmer. Genug um sich zu amüsieren. Genug zum Würfeln, zum Rezepte testen, zum Plätzchen backen, einfach irgendwo sitzen und sich seinen Träumen hingeben, Vielleicht ein nettes Mädchen kennenlernen…
Am Anfang war es leicht.
Nate verbrachte seine Tage und Nächte ganz genau so wie es ihm gefiel: Mit gepflegtem, geübten, perfektioniertem Nichtstun. Sinnieren. Philosophieren. Frösche und Schmetterlinge beobachten. Plaudern. Den Mädchen schöne Augen machen. Was machte es schon, wenn er sich das Zimmer nicht mehr leisten konnte? Er hatte immer noch sein gutes altes Zelt! Sein Zelt, ein besseres Zuhause als es der Gasthof oder jedes Zimmer, in dem er gelebt hatte, je gewesen war. Wie romantisch! Im Wald leben! Die Bären konnte man mit Honig fernhalten und die riesigen Spinnen, die waren ja auch irgendwie niedlich, wenn sie nicht versuchten einen zu fressen. Nate wusste, wie er sich verstecken konnte. Keine Chance, dass die Gnolle oder Banditen ihn fanden. Bis er eines Nachts zu seinem Lager wanderte und das Zeug, dass er nicht bei sich trug verschwunden war. Immerhin hatten sie ihm sein Zelt gelassen… Wenn auch mit einem Loch darin. Regen und Kälte und selbst zeitweiliger Hunger konnten, nein sie WÜRDEN seine Stimmung nicht trüben!
Dann war es nicht mehr so leicht.
Die Ersparnisse ins Nichts verpufft und es wurde kälter. Was einst ein spannendes Abenteuer war, war nun ätzender Alltag geworden. Tag für Tag saß er da, in seinen Kleidern, die immer zerschlissener, immer dreckiger wurden. Mit dem ausgefransten Armband an der Hand und der zerrupften Feder im Haar. Jeder neue Tag brachte Furcht, Angst… Und je mehr Zeit verging, desto tiefer wurde das Loch, desto schwerer wurde es, sich zu irgendwas aufzuraffen.
Natürlich, die Angebote kamen. Freundliche Leute, mit den besten Intentionen. Sie boten ihm Arbeit. Neue Perspektiven. Ein Zuhause. Nate lächelte und nickte und versprach immer das gleiche, gerne einmal vorbeizuschauen, sein bestes zu geben! Aber im inneren blieb die Gleiche Frage… Wozu? Wozu? Wozu? Wozu? Damit er die nächste Stelle annehmen und wieder verlieren konnte, nur um dann in der gleichen Situation zu enden? Ungeahnte Bitterkeit, die in ihm wuchs und wuchs und nur mit Mühe geschluckt werden konnte.
Mit jeder neuen Ungerechtigkeit, die er erlebte und am eigenen Leib spürte, wurde es ihm klarer: Die schlechten Leute überwogen die guten Leute. Um ein vielfaches. Um ein so vielfaches, dass ihm schlecht wurde, wenn er nur darüber nachdachte.
Und trotzdem, trotz allem. Die Lichtblicke wurden immer seltener, aber dennoch waren sie da. Neue Freunde. Neue Perspektiven. Eine neue Sicht auf die Dinge, die er nur einige Monate zuvor noch abgetan hätte.
Mit Maus und Ratte an seiner Seite, sahen die Dinge nicht mehr ganz so hoffnungslos aus.

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Furcht, Angst, Kälte und Hunger. Neue Freunde? Neue Perspektiven? Manch ein Glücklicher mag es finden und manch anderer sucht sich das Gefühl von Glück in anderen Mitteln.
Eine liebliche Stimme lockt mit Versprechungen die niemals wahr sein können. Die Kälte nicht mehr spüren, den Hunger überwinden. Alles fühlt sich weich und warm an. Ein geborgenes Gefühl voller Glück in wohlduftenden Rauch. Oder alles wird plötzlich bunt, interessanter, wie eine Explosion voller Farben im Kopf.
Nur wenige Münzen und sie bietet dir all das. Diese junge und doch verbrauchte Frau, die in der Nähe der Dirnen rumlungert, an der oberen Hafenpromenade.
Und die Wahrheit? Die spürt man am nächsten Tag. Die Versprechungen sind verflogen. Hunger, Kälte, Schmerz und das starke Verlangen dem wieder zu entkommen rauben einem den Verstand.

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Ab.schaum.

Wie konnte ein Mensch, noch dazu aus Gilneas, nur so tief sinken? Menschen, deren Selbstwertgefühl auf dem Niveau einer Straßenratte lag, weil sie nicht den Mut hatten, sich aus ihrer Situation zu befreien? Die sich stattdessen in zerschlissenen, verdreckten und wahlweise zu großen oder zu kleinen Lumpen im Schmutz der Straßen suhlten? Menschen, die auf die Krone schimpften und darüber fluchten, dass sie ja so wenig für sie täte. Die ihr weniges Geld für Alkohol und Dirnen verprassten.

Schwach.

Kein Bestreben, sich zu erheben. Kein Bestreben, etwas an der Situation zu ändern. Lieber den ganzen Tag lang faulenzen und tüchtige Bürger um Münzen und Essen anbetteln. Einfach nur auf milde Gaben der Menschen um einen herum aus zu sein… wie konnte sich jemand nur in so erbärmliche Zustände herablassen?
Und wenn einem doch ein Strohhalm gereicht wurde, ein Hauch von Hoffnung… wurde er abgewiesen. Abgelehnt. Eine Schande für eine Gesellschaft wie das Königreich Sturmwind waren all jene, auf die dies zutraf. Straßenkinder gehörten ins Waisenhaus, um betreut und belehrt zu werden, stattdessen trieben sie sich in dunklen Gassen herum und fraßen wortwörtlich Dreck.
Wer aus dem Waisenhaus floh oder für den Verbrechen die einzige Option im Kopf waren, für den konnte es doch nur eine Lösung geben. Zwangsverpflichtung, das einzige, was ihnen noch helfen konnte, auf einen geraden Weg zu gelangen.

Auswege…?

Immer wieder bot sich in Sturmwind die Möglichkeit, der Situation zu entkommen… und sie lehnten es ab. Immer und immer wieder. Ganz gleich, ob es ein Adelshaus, ein Bürgerlicher oder das Militär war, welches Ausbildung, Geld und Unterkunft gegen Dienste bot - Es wurde abgelehnt. Gar wurden sie alle als Unterdrücker beschimpft und vom Schmutz der Straßen bespuckt. Fragen, was der König und Sturmwind jemals für sie getan hätten, dass sie darauf eingehen sollten. Und da war er wieder… der Unwille, sich aus eigener Kraft aus dem Elend zu befreien. Denn es gab nur diese Optionen: Entweder, befreite sich der Dreck aus dem Elend, um aufzusteigen oder er ging unter. Eines Tages würden die Straßen von allen Ratten befreit werden, damit Sturmwind wieder erstrahlen könnte.

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Jetzt

Ratte schaute in Himmel: Graue Wolken. Sie zog die Nase hoch und wischte mit der Hand darüber. Bald würde es regnen.

Am späten Nachmittag war in der Altstadt nicht mehr viel los. Handelnde eilten durch die Straßen, ein paar Kinder spielten Fangen und hielten inne, als Ratte, selbst noch ein Kind, an ihnen vorbeiging. Ein großer Junge mit sauberer Kleidung baute sich vor ihr auf. „Zisch ab, Bettelkind!“

Ratte beachtete ihn nicht und drückte sich an ihm vorbei.

„Bettelkind,
Rattenkind,
Hau bloß ab, weil’s gar so stinkst!“

Ein paar Gassen später nahm sie einen vertrauten Geruch wahr: Brot! Frisches, kross gebackenes Brot! Sie folgte dem Geruch und bald darauf erreichte sie eine kleine Bäckerei. Ein großes, halbrundes Fenster, daneben eine Türe, die offen stand. Eine Kundin kam heraus und ging davon, in der Hand ein Bündel.

Sie wagte es nicht, zu nahe zu kommen. Der Ort kam ihr bekannt vor, früher einmal hatte sie hier zur Aushilfe gearbeitet.
Sie zog die Nase hoch und erschrak, als sie durchs große Fenster Marisa sah.

Früher

Ratte drückte ihre kleinen, schmalen Finger in den Teig, schlug ihn, knetete ihn, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn und hinterließ Krater im mit Mehl bestreuten Tisch, aber nie war Marisa zufrieden. „Mehr noch kneten! Da, hole frisches Wasser, der Teig ist viel zu trocken! Mach schneller, sei nicht so faul, die Leute wollen pünktlich einkaufen!“

Ratte mühte sich ab, längst schon tat ihr der Rücken weh und die Arme zitterten vor Anstrengung, aber sie wollte es schaffen, wollte, dass Marisa endlich zufrieden mit ihr war.

Jetzt

Ratte roch das duftende Brot und ihr wurde schlecht vor Hunger. Sie stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, einen ganzen Laib in den Händen zu halten, warm vom Ofen, und dann langsam die Zähne in die knusprige Hülle zu drücken.

Marisa war um diese Zeit alleine in der Bäckerei. Der Großteil der Arbeit wurde frühmorgens erledigt, ihr Mann half ihr dabei und oft hatten sie Aushilfen. Aber spät am Nachmittag wurde nichts mehr gebacken, da ging es nur darum, das Backzeugs zu verkaufen.

Sicher würde Marisa einen Laib nicht vermissen.

Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe! Aber Marisa blieb wie angekettet im Laden stehen. Ratte beobachtete sie vom Hauseingang gegenüber. Ihr Magen knurrte. Bald würde es dunkel werden und Ratte musste es erledigen, bevor der Laden schloss und es zu spät war. Oder bevor das letzte Brot verkauft war.

Früher

Sie sah über die Auslage und war sogar ein wenig stolz auf ihre Arbeit. Rund die Hälfte der Brote (und nicht einmal die schrumpeligsten) hatte sie selbst geknetet und gebacken und nun warteten sie darauf, dass irgend ein Schnösel oder eine Von und Zu kam, um sie mit ihren blitzenden Münzen zu bezahlen.

Immer wieder schaute sie zur Kasse, ein Holzkästchen unter der Theke, stets verschlossen. Marisa gab niemals den Schlüssel aus der Hand. Nur sie durfte Geld in die Kasse legen und herausnehmen.

So viel Geld!

Jetzt

Sie wartete. Ratte war gut im Warten. Sie wusste, irgendwann würde die Gelegenheit kommen und dann musste sie schnell sein. Und tatsächlich: Eine Kunde verließ das Geschäft und Ratte konnte sehen, wie Marisa sich die Hände abwischte, kurz nach draußen sah, ob Kundschaft kam, und mit der Kasse im hinteren Bereich des Ladens verschwand. Dort würde sie die Einnahmen des Tages zählen. Ratte sah durchs Fenster und bemerkte einen Brotlaib, der immer in der Auslage war und ganz und gar verlockend aussah.

Sie drückte sich von der Wand ab und huschte in den Laden.

Früher

„Reia, verdammt, an der Pastete von gestern, an der war irgendwas nicht in Ordnung. Ich … ich muss weg, bin in ein paar Minuten wieder hier. Wenn Kundschaft kommt, das kriegst du hin.“

Sie legte den Schlüssel auf die Kasse und eilte ins Hintere des Ladens, wo sich das Klo befand.

„Klar. Krieg ich hin, mach dir keine Sorgen.“

Ratte atmete tief durch, sah zum Schlüssel, wartete, bis Marisa die Klotüre hinter sich geschlossen hatte und griff danach.

Jetzt

Der vertraute Geruch haute sie fast um. Sie schob die Erinnerung beiseite und konzentrierte sich. Flink ging sie hinter die Theke, griff das Brot und steckte es in ihre Tasche.

Sie sah zum Platz, an dem die Kasse normalerweise stand, dann huschte sie nach draußen.

Früher

Sie nahm den Schlüssel in die Hand und atmete tief durch, war hin und her gerissen. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Die Gelegenheit war buchstäblich zum Greifen nah, warum zögerte sie? „Nimm das verdammte Geld und verschwinde“, schalt sie sich.

Sie erinnerte sich an ihre Mutter. Das liebevolle Gesicht, das sie anlächelte. Die von der Arbeit rauen Hände, die sie drückten. Die Schreie. Das viele Blut. Das Gefühl, für immer alleine zu sein.

Danach fühlte sie nichts mehr. Ausdruckslos öffnete sie die Kasse, entnahm so viele Münzen, wie in ihrer Tasche Platz hatten, und huschte nach draußen.

Jetzt

Ihr Herz klopfte. Erst drei, vier Gassen weiter war sie sicher, dass niemand sie verfolgte und sie ging langsamer, bis sie zu einem großen, gemauerten Durchgang kam, der aus der Stadt und in Richtung Hafen führte. Sie sah Maus und Nate dort sitzen und lächelte.

„Hat wer Hunger?“, fragte sie.

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In einem Hinterhof schlüpfte sie aus den löchrigen Stiefeln und verbarg sie in einem Gebüsch. Es war praktisch, sie zu haben, aber nun würden sie eher stören. Über eine schlecht verputzte Hauswand gelangte sie auf das Dach und von diesem führte ein schmaler Steg zu weiteren. Maus kannte sich aus auf den Dächern der Stadt. Sie wusste, welche Wege es hinauf gab und wohin sie sich überall bewegen konnte. Schon damals, Zuhause, hatte sie die Dächer als Rückzugsort geliebt. Und seitdem hatte sie sie an jedem Ort, an dem sie blieben, erforscht.

Nun zog es die kleine, magere Gestalt Richtung Hafen. Ein Blick in die Ferne, mit all der Sehnsucht, die sie im Herzen trug. Sie saß gerne dort, versteckt in einer Nische zwischen zwei Hausdächern. Es war eine der Nächte, in denen der Himmel vom Wind klar gefegt worden war, in denen beide Monde Licht spendeten. Maus beruhigte das. Natürlich, sie konnte leichter entdeckt werden, dort oben. Aber sie mochte, dass es nicht so dunkel war. Dunkelheit ließ sie immer verzagen.

Ein Schiff näherte sich durch die Nacht. Maus konnte es schon von weit weg beobachten, warf der große Mond doch einen silbrigen Weg auf’s Wasser, auf dem das Schiff gen Sturmwind schwamm. Ob es aus Beutebucht kam? Sehnsüchtig sah das Mädchen nach Süden und dann den Teil der Hafenpromenade entlang, den es von seiner Position ausmachen konnte. Sie war dort unten. Irgendwo dort. Maus wusste, dass die Frau besonders gerne am Hafen wartete. Auf Kundschaft. Auf sie. Es wäre so leicht. Ein wenig Rauch, ein wenig Schweben. Ein Traum, der sie nicht zitternd hinaus in die Nacht jagte.

Dass sie nicht verstanden, wie wohlig warm es ihr wurde. All die Angst, die plötzlich nicht mehr zählte. Und was werden würde, war ihr auch egal. Sie fror immer, sie fürchtete sich immer und an dem, was werden würde, konnte sie sowieso nichts ändern. Maus seufzte leise und schob sich an die Dachkante vor, sodass sie nun fast die gesamte Hafenpromenade einsehen konnte. Es war zu spät, natürlich war sie nicht mehr dort unten. So viele Nächte hatte sie zuletzt oben auf den Dächern verbracht, nachdem alle schlafen gegangen waren oder irgendwelche besseren Dinge zu tun hatten. So viele Stunden, die sie nicht mit betteln zubringen konnte, weil niemand mehr da war. Es zehrte an ihr, das spürte sie. Tag für Tag wurde sie nervöser, traute sich noch weniger, sprach kaum noch wen an, um an Münzen zu kommen. Was würde sie nur ohne die anderen tun?

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Der Hafen war unheimlich, Ratte hatte es auch gesagt. Da ging man nicht hin, wenn es sich vermeiden ließ. Aber an diesem Abend hatte sie vergeblich nach der Frau Ausschau gehalten, die oben am Hafen verkaufte. Also musste sie hinunter. Sie spürte schon, dass die Angst wieder in ihr hochkroch, dass das Zittern hinter den nächsten Gedanken lag. Nein, sie hatte genug Münzen, um sich einen weiteren Tag Frieden zu kaufen.

„Und hier kommen die bösen Kinder hin“, sagte der Hausmeister. Er hatte die Führung der beiden Kinder durch das Waisenhaus übernommen, nachdem die Leiterin sie von der Wache entgegengenommen hatte. Damit sie auch wussten, wo sie sauber machen mussten. Die Schadenfreude stand dem Mann in das verhärmte Gesicht geschrieben, als er eine Tür im Keller öffnete. Völlige Dunkelheit schlug den Kindern entgegen, gepaart mit muffiger Luft. ‚Niemals‘, schwor sich das Mädchen, das sich geweigert hatte, einen anderen Namen als Maus anzugeben. ‚Niemals werde ich hier hinkommen.‘

Leise und immer in die Schatten gedrückt schlich sich eine kleine Gestalt hinter ein paar Kisten entlang. Mehr als einmal hatte man ihr gesagt, dass dies kein Ort für Kinder sei. Besonders nicht bei Nacht! Na und? Sie war kein Kind mehr. Sie war klein, aber das war nicht dasselbe. Natürlich hatte sie keine Ahnung, wie alt sie wirklich war, aber auch das hatte schließlich nichts zu sagen. Und natürlich war sie klein, wen sollte das wundern?

Manchmal kam der Junge, der mit ihr hierhergebracht worden war, an die Tür der Dunkelkammer und flüsterte mit ihr. Allein seinen geflüsterten Nachrichten war zu verdanken, dass Maus wusste, dass schon zwei Tage vergangen waren, seit sie hier saß. Sonst hätte sie jegliches Zeitgefühl verloren. Es gab eine schmale Pritsche und einen Eimer. Wahrscheinlich hatte sie den vorhin umgestoßen. Es war wirklich verflucht dunkel. Eine halbe Kelle! Eine halbe Kelle zu viel hatte sie ausgeteilt, dem Jungen… Luchs gegeben. Er war genauso hungrig wie sie, sie konnte es sehen. Die hatten sie hier wegen einer halben Kelle Eintopf eingesperrt, das war ungerecht!

Da war er, der große, blonde Mann, bei dem sie schon ein paar Mal gewesen war. Er war gemeiner als die Frau oben am Hafen, aber zum Glück hielt er sie für den Burschen, für den sie sich ausgab. Sonst wäre er wahrscheinlich noch gemeiner geworden. Einige Minuten beobachtete sie ihn und die Umgebung. Ein betrunkener Matrose hielt auf den Verkäufer zu und einige Minuten sprachen sie verhalten, dann trennten sich ihre Wege wieder. Nun war es still und der Mann machte Anstalten, seinen Platz zu verlassen, als sich die dürre Gestalt aus dem Schatten zu ihm stahl. Sie mussten nicht lange sprechen, er wusste, was sie wollte, sie wusste, was sie zu zahlen hatte.

In der ersten Nacht, nachdem Maus aus der Dunkelkammer gelassen worden war, lag sie in einem Bett in einem Schlafsaal. Die anderen Mädchen um sie herum schliefen wahrscheinlich längst, von Albträumen, Sehnsüchten und Erinnerungen geplagt. Aber Maus traute sich nicht, die Augen zu schließen. Im Schlafsaal gab es ein Fenster, durch das schwach das Mondlicht fiel. Sie wollte das nicht gegen die Dunkelheit hinter ihren Lidern eintauschen. Darum bemerkte sie den Umriss gleich, der sich in den Schlafsaal schlich, von Bett zu Bett wanderte und die Kinder darin abschätzend betrachtete. Als er sich ihrem Bett näherte, kniff sie die Augen zusammen. Sie wollte nicht erwischt werden dabei, dass sie nicht schlief. Wer wusste schon, womit man sie dafür bestrafen würde. Erst, als Luchs sich zu ihr hinabbeugte und ihr ins Ohr „Komm, wir verschwinden von hier.“ flüsterte, bewegte sie sich wieder.

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Mit einem Blick in den Himmel, bevölkert von Schwalben und Mauerseglern, konnte Fee die ganze Welt vergessen. Es hatte immer schon funktioniert. Stundenlang hatte sie schon die Zeit hinter sich gelassen und Dohle in Sorge warten lassen, während sie sich ausmalte, bei den Vögeln oben zu fliegen, sie zu beobachten auf ihrer Jagd nach Insekten und sie zu malen. Oder sie saß am Rande eines Teichs und beobachtete die Libellen, ihren Flug über das Wasser, bezaubert vom farbenfrohen Schimmer. Und wie oft schon hatte Dohle sie aufgeschreckt, als sie gedankenverloren in die Gegend starrte, von Feendrachen träumend. Es fiel Fee leicht, unangenehmen Gedanken aus dem Weg zu gehen. Erst vor Kurzem hatte sie das unangenehme Gefühl verdrängt, das sich über sie legen wollte, als der Mann sie geschubst und sie sich den Fuß verletzt hatte. Stattdessen dachte sie darüber nach, was sie noch über die Meisen hatte erzählen wollen, bevor sie unterbrochen worden war.

Nachdem sie eine Nacht wach gelegen hatte, musste sie sich eingestehen, dass nur die Gedanken an Schwalben, Libellen oder Feendrachen dieses Mal nicht ausreichten. Also suchte sie einen Tag lang all ihre Lieblingsstellen für Beobachtungen auf. Am Hafen lag sie eine Weile auf dem Rücken und sah die Möwen, die Schwalben und manchen Greifenreiter auf seinem Tier. Doch währenddessen dachte sie nach und konnte sich nicht darauf konzentrieren. Hinter dem Stinkeviertel lief sie zu der Stelle am See, wo das Wasser ganz ruhig war und Seerosen nah am Ufer wuchsen, eine wunderschöne Stelle für Libellen, von denen auch heute so verschiedene zu sehen waren. Doch währenddessen dachte sie nach und konnte sich nicht darauf konzentrieren. Schließlich hockte sie am Kathedralenviertel, dort, wo sie das Amselnest entdeckt hatte. Aber hier lag es nicht einmal an ihren Gedanken, die Küken waren flügge geworden und das Nest verlassen.

Eine weitere Nacht folgte, in der Fee nur wenig und unruhig schlief. Schließlich stand sie auf, lange, bevor die Sonne wirklich am Himmel stand, sogar noch bevor Dohle aufstand, um sich eine Arbeit am Hafen zu suchen. Sie warf einen traurigen Blick auf den schlafenden Jungen und floh dann in die Straßen der Stadt. Stundenlang ließ sie ihren Füßen die Entscheidung darüber, wohin sie liefen. In ihrem Bauch war ein fester, schwerer Knoten, über den sie nicht mehr hinwegträumen konnte, so weh tat er ihr inzwischen.

Oh, sie hatte die Paladin gemocht, kein Zweifel. Sie schien genau die Person zu sein, die sie seit so langer Zeit gesucht hatten. So oft hatten sie darüber gesprochen, dass Dohle eines Tages Knappe und dann Paladin werden würde. Sie, Fee, hatte nie etwas dagegen zu sagen gehabt. Anders als Dohle, bei dem diese eine Nacht nur noch unerschütterlicheren Glauben ins Licht hinterlassen hatte, war sie seitdem nicht mehr so überzeugt davon, dass das Licht gerecht zu denen war, die ihm treu dienten. Aber es war Dohles Traum und das war wichtiger als ihre Zweifel.

So oft hatten sie Pläne geschmiedet, wie sie einen guten Mentor für Dohle finden würden, dass er in der Ausbildung so viel über das Licht lernen würde, das Kämpfen außerdem. Doch die Fragen des zweiten Paladins… Schweinwacht oder so… hatten Fee verdeutlicht, dass sie nich darüber gesprochen hatten, was aus ihr werden würde. Sie hatte gedacht, dass sie Dohle folgen würde, egal, wohin er gehen würde. Aber das war natürlich dumm und ging nicht. Er konnte nicht bei ihr bleiben, wenn er doch seiner Mentorin dienen musste. Wenn er irgendwohin musste, wo Krieg war, konnte er sie nicht an seiner Seite gebrauchen. Und wie sollte sie Lautstärke, Gerüche und Stress einer solchen Umgebung auch aushalten?

Früher einmal war das alles klar gewesen. Dohle hatte Knappe werden sollen, vor dieser Nacht, und sie hatte bei seinem Vater lernen sollen. Bücherbinder war er, doch er tat mehr als das. Er schrieb eigene Texte und vervielfältigte besondere Schriften. Mit ihrer feinen Schrift wäre sie für diese Arbeit bestens geeignet, hatte er ihr immer wieder gesagt. Und sie hatte es in seiner Werkstatt gemocht. Viel öfter als Dohle hatte sie dort gesessen, die Ruhe genossen und kleine Aufgaben übernommen. Es war ihr Lieblingsort gewesen. Vor dieser Nacht. Doch was sollte jetzt aus ihr werden?

Es war schon spät, als Fee für einen Moment aus diesen Grübeleien auftauchte und zum ersten Mal seit Stunden ihre Umgebung bewusst wahrnahm. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war und es war schon zu dunkel, um die Farbe der Dächer von hier unten zu erkennen. Es hätte braun, rot, lila oder schmutzig gelb sein können. Sie war sich sicher, dass es kein blau war und lila waren die Dächer im Grasviertel. Hier war kein Gras. Sie seufzte leise. Sie würde lernen müssen, ohne Dohle zurecht zu kommen, und damit konnte sie auch gleich anfangen. In einer Sackgasse fand sie einige Kisten, hinter denen sie sich für die Nacht zusammenrollte. Dohle hätte ihr gesagt, dass ein Lager in einer Sackgasse keine Fluchtmöglichkeiten zuließ. Doch Fee machte sich darüber keine Gedanken.

Frierend lag die Rothaarige in ihrem neuen Versteck und spürte dem Knoten in ihrem Bauch nach, der immer fester und größer geworden war. Mit ihren Fingern tastete sie über ihren Bauch, um zu fühlen, wie groß er geworden sein musste. Erst dabei merkte sie, dass sie den ganzen Tag in ihre Unterarme gekniffen haben musste, sie waren übersät von blauen Flecken und Rötungen. Schnell verbarg sie ihre Arme vor dem eigenen Blick und dachte darüber nach, welche Aufgaben Dohle übernahm und worum sie sich in Zukunft alleine würde kümmern müssen. Die Liste in ihrem Kopf wurde immer länger und lähmte sie. Und auch die heißen Tränen, die sie schließlich über ihre Einsamkeit vergoss, halfen nicht, ihren Kopf klarer, den Knoten im Bauch kleiner zu machen.

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Momentaufnahme:

Die Nacht im Sumpf war nicht die gleiche wie anderswo. Sie war nicht so düster, Nebelschleier und Sumpflichter durchbrachen die Dunkelheit seltsam unwirklich und erzeugten das Gefühl von einem Riss in der Wirklichkeit. Als der Regen einsetzte, wurden zwar die Nebelschleier vertrieben, doch der Vorhang aus Niederschlag rund um das kleine Lager ließ den Sumpf nicht wirklicher werden. Dem Regen zum Trotz flackerte und tanzte das Lagerfeuer, geschützt durch die riesige Sumpfweide und die gespannte Plane.
Fee hatte die Lichter gesehen, am Rand des Feuerscheins stehend und in die regennasse Nacht spähend. Ganz sicher war sie, dass sie dort gewesen waren. Und hatte Ratte sie nicht auch gesehen? Irrlichter, freche Sumpfgeister, bestimmt hatten sie irgendwelche Narren in den Sumpf gelockt. Doch sie nicht, nein, Lagerfeuer und die Freunde im Rücken hatten sie gehalten.

Nun lag Fee in dem Nest aus Decken, das sie sich neben Dohle eingerichtet hatte, und konnte nicht schlafen. Das Rauschen des Regens, das glucksende Geräusch des Sumpfes und das laute Prasseln der Regentropfen in der Waschschüssel waren viel zu laut, als dass sie dabei schlafen konnte. Durch die nur zu Schlitzen geöffneten Augen beobachtete das Mädchen die Flammen des Feuers, der Blick verlor sich darin. Nein, wenn Fee ehrlich war, dann lag es nicht an den lauten Geräuschen, sondern an den lauten Gedanken, die sie nicht einschlafen ließen.

Fuchs und Ratte, beide schienen gewusst zu haben, was Dohle ihr erst in der Nacht zuvor offenbart hatte. Dass er sie mochte. War es wirklich so offensichtlich? Und stimmte, was sie gesagt hatten, dass sie Dohle auch auf diese Art mochte? Konnten sie das auch sehen und wissen? Das müssten sie miteinander besprechen, hatte Fuchs schließlich gesagt und Fee mit mehr Fragen als Antworten im Kopf zurück gelassen. Vielleicht mussten sie das. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Fee Furcht vor den Antworten, die Dohle ihr vielleicht geben könnte.

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Einen Sommer in Westfall sollte man nie unterschätzen.
Nicht waren es etwa wilde Koyoten, garstige Gnolle, Kobolde oder die lauernden Geier, die eine großartige Gefahr darstellten. Nicht waren es die armen Schlucker, Landstreicher und das Bandengesocks, das diesen Teil des Königreiches als ihren Unterschlupf wahrnahmen.
Nein, es war die Sonne selbst, die erbarmungslos auf teils geschützte, teils durch Haar oder Hut geschützte, teils komplett ungeschützte Köpfe niederschlug und ihr Zeichen in Form von roter, brennender, teils blasenüberdeckter Haut zu hinterlassen versuchte.

Eigenverschulden war es in diesem Fall jedoch trotzdem, denn statt sich unter den Baum nebenan in den schützenden Schatten zu stellen, tat man es … nicht.
Die zwei Gestalten, die nebeneinander ein ungleiches Bild sämtlicher Hinsichten abgaben, abgesehen von der Kleidung, die sich nahtlos in das ärmliche Bild der Gegend hier einfügte, standen mit verschränkten Armen vor einem schief gebauten Zaun.
Zwei helle Augenpaare starr nach vorne auf ein vertrocknetes Feld gerichtet, während im Hintergrund das emsige Rascheln von dem Binden von Streuballen erklang.

Schweigen.
Ein Wettbewerb unter Gleichgesinnten.
Keiner hatte die Absicht, ein Wort zu verlieren. Oder eher zuerst das Wort zu verlieren. Aus Sekunden wurden Minuten, bis das angenehme Nichts an Konversation doch wohl zu unerträglich wurde.

„Hühner.“, war das einzige Wort, das dem Gilneer trocken gesprochen aus dem Mund fiel, staubig wie das Land, in dem sie sich gerade befanden.
Der Glatzköpfige, dem der Schweiß mittlerweile in die Augenbrauen rinnte, versuchte seinen Unglauben zu verdecken, doch hoben sich die buschigen Augenbrauen dennoch ruckartig.
„Jeeeeepp.“, folgte die langezogene Antwort seines Nebenmannes träge.
„Ich werde nicht-“
„Nach 'nem „Warum“ fragen?“
„Ja.“
„Hast du aber indirekt.“
Langsam drehten beide ihre Köpfe. Der eine schaute hoch, der andere runter, ehe sie wieder das Ziel in Visier nahmen. Plural - Ziele.
Fedrige, dünnhälsige Geschöpfe, die aggressiv den Boden mit ihren Schnäbeln bearbeiteten, auf der Suche nach dem letzten Korn. Hin und wieder bearbeiteten sie sich auch untereinander mit den messerscharfen Werkzeugen. Hühner.

„Du weißt aber schon, dass die Dinge hier anders laufen, als…“
„Jepp.“
Ein Schnaufen.
„Lass mich halt mal ausreden, Bursche.“
Schmale Schultern hoben sich an, ehe sich ein dünner Arm ausstreckte und nach und nach auf einige der Tiere deutete. Ein Muster, nachdem sein Partner sie auswählte, schien es nicht zu geben. Es wirkte zumindest wahllos.
Ein zweites Schnaufen.
„Hm. Und was machen wir dann? In einen Sack stecken, mitnehmen und-“
Wiedermal unterbrach sich die Stimme der Vernunft, als er seinem Begleiter blinzelnd hinterher sah, der in einer Hockwende über den Zaun gesprungen ist.

Die Augen verdrehten sich gen Himmel, kniffen sich zusammen, als die Sonne den Blick für einen Bruchteil von Sekunden kritisch traf, ehe sich Aramias Fowles, die Arme in die Luft werfend, umdrehte und sich in Richtung der armen Familie begab, die gerade einer ihrer Lebensgrundlagen wohl oder übel beraubt wird.

Aber wen kümmerte das hier schon?
Und was brachte besser zum Schweigen, als ein paar Münzen und Flaschen es taten?
Immerhin dahingehend waren arme Menschen überall gleich.

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Es war noch früh, als Maus über den Straßen der Altstadt versuchte in einem großen Kochtopf der Glut ein Flämmchen zu entlocken, um es mit kleinen Ästchen zu füttern und wachsen zu lassen. Der Topf war von innen pechschwarz und diente wohl schon lange als Feuerschale. Als das Feuer endlich sicher brannte, nahm Maus ein Gitter, legte es über den Topf und stellte einen Wasserkessel darauf. Nachdenklich betrachtete sie diese Konstruktion. Ihr war sie eingefallen, aber Nate… er hatte ihr damals die Töpfe und den Kessel geschenkt. Wie lange das her war. Zwei Ewigkeiten, mindestens. Denn eine Ewigkeit war es ja schon her, dass er sie verlassen hatte, im Stich gelassen mit all dem Sch**ß. Wenn sie darüber nur nachdachte, wurde sie wütend. Er war gegangen, genau wie der elende Paladin, wie Luchs, wie immer alle gingen. Doch im nächsten Moment dachte sie wieder an den Ausdruck in seinem Blick, diese Traurigkeit, und ihr wurde flau im Magen.

Das Wasser im Kessel begann zu kochen und Maus kippte es in den Becher mit den Kräutern. Sie hatten nur einen Becher, aber da Ratte schon unterwegs war, musste sie den Tee nicht teilen. Ihr Becher, den sie schon so lange besaß, den Ratte nicht verkauft hatte, obwohl Maus so lange verschwunden war. Ja, sie war auch verschwunden, aber sie war zurückgekommen und hatte nicht rumgeweint, wie schlimm alles war. Dabei war es schlimm gewesen, sehr sogar. Aber sie mochte es nicht, über sich zu reden, über sowas zu reden und sie mochte nicht, wenn andere Mitleid mit ihr hatten. Also hatte sie Ratte gegenüber geschwiegen und bloß hier und da ein wenig herausgelassen. Und Ratte hatte ihr verziehen, so glaubte Maus wenigstens.

Als nächstes folgte der kleine Topf. Sie hatte die Suppe, die ihr dieser Keanu gestern noch gebracht und die sie nicht gegessen hatte, hineingekippt. Suppe zum Frühstück, das war wirklich etwas Besonderes. Das Mädchen hustete angestrengt und hielt die Hand über den Becher. Nein, noch war der Tee zu heiß. Also grübelte Maus weiter. Luchs, der machte sie auch wütend. Noch viel wütender als Nate. Abgehauen war er, obwohl er versprochen hatte, sich zu melden. Und das schlimmste war, dass er sie festgehalten hatte. Niemals, nicht in hundert Jahren würde sie ihm das verzeihen. Nate dagegen… der hatte gefragt, ob er ihr Gesellschaft leisten dürfe. Es nicht einfach gemacht, sondern gefragt!

Die Suppe war warm und der Tee nicht mehr zu heiß. Maus setzte sich dicht neben den Feuertopf, um auch die verglühende Wärme des Feuers nicht zu verschwenden. Während sie die Suppe löffelte und vom Tee trank, dachte sie, dass der Winter sich so vielleicht sogar überleben ließe. Warum war ihr Herz viel eher bereit Nate zu verzeihen als Luchs, den sie beinah ihr ganzes Leben lang schon liebte? Wieder dachte sie an Nates Blick und aller Mut zerfloss ins Nichts. Nein. Auch Nate hatte sie verlassen, rief sie sich in Erinnerung. Und allein die wenigen Stunden in seiner Gesellschaft, mit seinem traurigen Blick und all dem Weltschmerz darin, hatten sie schon viel zu oft an die Zeit in Beutebucht denken lassen. An die gute Zeit und… Das hämmerte Maus sich immer wieder ein… die hatte nicht gut geendet.

Sollten ihr doch alle gestohlen bleiben. Ratte war ihr genug.

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Es war schon spät, als Amsel die Schreinerei hinter sich ließ und den Weg heim antrat. Im Schwein war das Gebrüll groß, wie immer zu dieser Zeit. Sie warf einen Blick in die Taverne, doch ihr war nicht kalt, noch nicht. Vielleicht würde sie später zurück kommen, wenn sie wieder nicht schlafen konnte. Sie hatte begonnen, jeden Tag ein paar Münzen aufzusparen für einen heißen Tee in der Nacht. Auf halbem Weg zu ihrem Versteck hielt Amsel inne. Vielleicht sollte sie noch eine Runde machen, einmal schauen, ob sie der großen Langen begegnete. Oder der Kuh. Sie seufzte, sah nach Hund und änderte die Richtung. Sie würde überall schauen, wo sie die Große schon gesehen hatte. Oder ob sie wirklich fort war? Was bedeutete dieses fort?

„Deine Mama ist fort, Kleines. Sie kommt nicht wieder.“ Meistens hielten sie sie für dumm. Wer nicht sprach, wusste nichts, konnte nichts verstehen. Aber sie wusste wohl, was dieses ‚fort‘ hieß. Sie hatte zugesehen, wie ihre Mama schon seit Monaten immer mehr verschwunden war. Sie wusste, dass ‚fort‘ ‚tot‘ hieß, sie war schließlich nicht mehr fünf Jahre alt.

Weder an der Kathedrale, noch am Hafen fand Amsel einen Hinweis auf die Große. Sie selber nicht, die Kuh nicht, nicht einmal irgendwen, der eine Teigtasche aß. Oder gar die Duftwolke, die die große Lange vorher immer mit sich geführt hatte. Ihre eigene Duftwolke dagegen… „Das hält die … fern“, hatte Ratte gesagt. Sie stank ja nicht gerne, aber Ratte hatte eben Recht. Außer beim Schreiner, der hatte keine Miene verzogen. Mit klopfendem Herz berührte Amsel das Lederetui, das noch immer im Hosenbund steckte. Sie hatte es unbedingt gewollt, ihre Finger hatten gezittert vor Verlangen. Hoffentlich hatte er es nicht gesehen. Sie wusste, dass die Rechnung eines Tages kommen würde, irgendwann würde sich zeigen, was er von ihr erwartete. Sie musste ihm nicht noch Anlass geben, den Preis in die Höhe zu treiben.

„Du musst wissen, wem du vertrauen kannst, Vögelchen. Die meisten wollen dir nur schaden, aber irgendwann wird sich wieder irgendwer wirklich um dich und dein Wohl sorgen.“ Mamas Lektionen waren endlos. Selbst als sie nur noch unter Schmerzen sprechen konnte, hatte sie ihr weiterhin die Ratschläge aus einem ganzen Leben mitgeben wollen. Und hatte sie nicht Coby vertraut? Oder war es nur gewesen, weil sie sonst in der schrecklichen Nacht auf der falschen Seite gestanden hätten? Auf der Seite, die nicht überlebt hatte? Aber Coby war noch da, der einzige, der ihre Sprache verstand. Er hatte sie ihr und Mama beigebracht.

Sie würde jedenfalls nicht ohne Verhandlung zahlen, was er erwartete. Amsel ballte die Hände unbewusst zu Fäusten. Nein, sie würde ihn nicht den Preis bestimmen lassen. Und sie hatte ja auch noch Hund. Ihr Blick wanderte über den zähen Straßenhund, der neben ihr her trabte. Sein Herz ließ sich leicht erobern. Und da der Schreiner jedes Mal etwas für Hund bereit hielt, würde er ihr vielleicht nicht mehr all zu lange zur Seite stehen. Unglücklich zog sie einen Mundwinkel hinab. Es würde schwer werden, wenn Hund bald lieber beim Schreiner blieb. Aber er war ein Freund, kein Tier, das sie besaß. Wenn er gehen wollte, würde sie ihn nicht daran hindern.

„Ihr seid gemein, hört auf!“ Fliegende Hände, die nicht verstanden wurden. Zwei Jungen, die sie nachäfften und auslachten. Aber sie hörten auf, Steine auf den Hund zu werfen. Sie hob die Hände erneut und machte sich verständlicher, indem sie die eine zur Faust geballt dem ersten Jungen ins Gesicht schlug. Der taumelte zurück, überrascht, den Angriff hatte er nicht erwartet. Der andere jedoch stürzte sich direkt auf sie, gemeinsam gingen sie zu Boden. Der Hund, zäh und mager, war vermutlich genau so Straßenköter wie sie selber. Er bellte laut los, als beide Jungen über sie herfielen, schnappte dann nach Beinen und Armen.

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Der Himmel über Sturmwind wandelte sich eben erst von schwarz zu grau. Bald würden sich Farben dazu gesellen, rosig und orange. Doch bis dahin würde erst einmal die Tiefe der Schatten abnehmen und die gesamte Stadt in farbloses Grau hüllen. Am Hafen gab es keine Nacht, keinen Schlaf und keine Ruhe. Rund um die Uhr wurden Frachträume geleert und neu bestückt, in den Lagerhallen geräumt und wo die Arbeit getan war, getrunken und gezockt.

Es war in dieser Zeit, als Amsel eine weitere schlaflose Nacht hinter sich ließ und sich am oberen Teil der Hafenmauer niederließ, um grübelnd zu beobachten wie die Küste Westfalls aus der Nacht auftauchte. Hund, der schmutzigweiße Straßenköter, machte es sich neben ihr gemütlich. Wenigstens er war da, war nicht beim Schreiner geblieben. Das Herz wurde ihr schwer und schnell schob sie den Gedanken an den Schreiner wieder von sich. Er hatte dort nichts mehr zu suchen. Stattdessen dachte sie an ihr letztes Gespräch mit dem Knappen. Auch nicht besser, aber sie schaffte es nicht, ihn ebenfalls von sich zu schieben. Ein anstrengender Besserwisser, der am Ende doch sowieso nichts verstand. So schlau, wie er dachte, war er gar nicht, hatte sie ja gesehen, als es um Ratte ging. Eine Lügnerin hatte er sie genannt. Weil seine Vorstellungskraft nicht über die eigenen Ideale hinaus ging. Na, sie würde ihm sicher nicht erklären, wieso er sich irrte.

Und dann hatte er behauptet, sie würde den Schmerz der Einsamkeit suchen. Was wusste er schon von Einsamkeit? Er war ja nie allein gewesen. Wie sollte er wissen, dass Einsamkeit viel weniger schmerzte? „Weil du den Schreiner gern hast“, hallten seine Worte durch ihre Erinnerung. Natürlich hatte sie, darum tat es ja auch so weh. Viel mehr als die Einsamkeit. Müde rupfte Amsel ein paar Blätter von einem nahen Busch und warf sie frustriert in die Tiefe. Und nun waren ihre Gedanken doch wieder zum Schreiner zurückgekehrt.

Die Welt hatte inzwischen ihre Farben zurück erhalten, so lange hatte Amsel am Hafen gesessen und nicht bemerkt, wie die Zeit vergangen war. Nun allerdings erhob sie sich und wanderte durch die Straßen zurück in die Altstadt. Wie automatisch wandten sich ihre Schritte der Schreinerei entgegen. Vielleicht war ein Funken der Hoffnung, dass sie ihm begegnen würde. Vielleicht ließ sie es darauf ankommen. Er war sonst immer früh aufgestanden. Doch als sie die Werkstatt erreichte, war die Tür geschlossen und im Inneren war es dunkel. Still legte Amsel die Sachen neben die Tür, die sie nicht mehr als ihre betrachten konnte: Kleidung, die inzwischen einiges abbekommen hatte, und ein rundes Stück Kirschholz. Ihre Finger strichen noch einmal über die Oberfläche, dann wandte sie sich ab. Zuerst hatte sie auch das Etui dazu legen wollen. Allerdings hatte der Schreiner ihr Bezahlung für die Figuren versprochen und sie beschloss, dass die Schnitzwerkzeuge ihr reichten.

Amsel ließ die Schreinerei hinter sich, das letzte Gespräch nun wieder in den Ohren. Wie konnte er verlangen, dass sie ihm vertraute, wenn er sie nicht sein ließ, wie sie nunmal war? Wenn er ihr nicht vertraute, sondern schon eine Meinung hatte? Wie konnte er verlangen, dass sie Schritte auf ihn zumachte, wenn er ihr den Boden unter den Füßen wegriss? Wütend schüttelte sie den Kopf. Als sie an der Wachkaserne vorbei ging, warf Amsel einen Blick zum Eingang und atmete tief durch. Die Große war auch wieder verschwunden. Sie hatte sich gefreut sie zu sehen, neulich nachts, obwohl ihr danach tagelang sämtliche Knochen im Körper wehgetan hatten. Hatte gehofft, dass die Große mehr von sich zeigen würde, damit sie sie besser verstand. Doch jetzt war sie wieder weg. Störrisch hob Amsel das Kinn. Es war besser so. Auf niemanden vertrauen, niemandem glauben, auf nichts verlassen. Niemand blieb, bloß die Einsamkeit. Und war nicht der Schmerz der Einsamkeit ein verlässlicher, der ihr zeigte, dass sie noch immer über den Tod siegte?

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