Wieseldieb
„Und, wie lange seid Ihr nun dabei, Novizin?“ Die Worte der kräftigen männlichen Stimme drangen an ihr Gehör und zogen sie aus tieferen Gedanken, deren Bilder nun verblassten wie nach einem kurzen Traum. Phoebe schickte ihre olivgrünen Augen in Richtung der Stimmenquelle und traf dabei das kantige Gesicht eines gut gebräunten Mannes, mit dunklen Augen und kurzen Haaren. Das Gesicht des Wachmannes war von einem kräftigen Bartwuchs belegt und die buschigen Augenbrauen verliehen ihm ein kräftiges, strenges Antlitz. „Verzeihung, was sagtet Ihr gerade?“, erwiderte Phoebe, die die Worte des Mannes nur verschwommen wahrgenommen hatte. „Mal wieder am Tagträumen, was?“ grunzte die Stimme des Mannes amüsiert. „Ich fragte, wie lang Ihr nun hier bei der Stadtwache seid.“, „Ahja…Nun dies ist die dritte Woche, Sir.“, ein knappes Lächeln umwogte ihre Lippen. Der Mann, der nun ihre Begleitung zurück zur Wachstube stellte, während Leutnant Kesper zusammen mit zwei weiteren Wachen, einem Gefreiten und einem Rekruten, im Verlies zurückblieben, geleitete sie nicht zum ersten Mal und dennoch konnte sie sich nicht daran erinnern, in der bisherigen Zeit ein richtiges Gespräch mit ihm geführt zu haben. Der Mann, dessen Name sie nicht kannte und von dem sie auch nur von Kesper her wusste, dass er Gefreiter war, schien ein stummer Geselle. „Die dritte Woche also. Wie lang werdet Ihr denn bleiben?“, „Nicht mehr allzu lang, fürchte ich. Der Aufenthalt bei der Stadtwache seitens der Akademie gilt nur für vier Wochen. Danach werde ich zu meinen Studien zurückkehren.“, irgendetwas an den eigenen Worten behagte Phoebe nicht und während sie und ihr Begleiter, der ihr Gesagtes sacht abgenickt hatte, die nächsten Schritte in Schweigen setzten, wurde ihr teils schmerzlich bewusst, dass sie möglicherweise die Stadtwache mit offenen Fragen zu Fällen verlassen würde, deren Lösung sie niemals erfahren würde. Phoebe merkte selbst, wie sie gedanklich aus dem Hier und Jetzt zu den Zeitungsausschnitten zurückglitt, die bisher einige Personen oder gar ganze Gruppierungen geschändet hatten. Ergrechtvon Meiningen wer könnte das sein? Handelt es sich hierbei überhaupt um eine Person…Steckt der wahre Name des Autors in dem, den er für sich geschaffen hat – so wie er die wahren Namen seiner Opfer erweitert oder umgeschrieben hat? Wer ist diese Person nur… Die innerlich gestellte Frage rückte durch die durchdringende Stimme des Gefreiten in den Hintergrund. Phoebe hatte die Frage nicht gehört und sie sah den Mann mit den groben Zügen abermals an. Seine Nase hatte einen Höcker und wirkte leicht nach links geneigt. Vielleicht war sie einmal gebrochen worden. „Seid Ihr schon wieder am Träumen?“, klang die kräftige Stimme amüsiert. „Nein, ich bin ganz bei Euch, Sir.“, log Phoebe, „Und wo bleibt die Antwort auf meine Frage?“, für einen Moment, so befand die Novizin, schien sich ihr Gesprächspartner köstlich darüber zu amüsieren wie unaufmerksam und unbeholfen sie in eben jenen Moment gewirkt haben muss, als sie nach einer passenden Antwort suchte – wäre da nicht etwas gewesen, dass die Aufmerksamkeit des Gefreiten umgehend in seinen Bann gezogen hätte. Phoebe folgte dem so plötzlich aufmerksam gewordenen Blick und erkannte eine bürgerlich gekleidete Frau, die an einem Stand einige Kräuter erstehen wollte und direkt hinter der Dame ein ärmlich gekleidetes Kind, welches sich daranmachte, mit seinen dreckigen Fingern, die Beuteltasche der unwissenden Bürgerin zu durchsuchen. „He du Langfinger!“, brüllte der Wachmann mit seiner durchdringenden Stimme, die alle im Umkreis verwirrt zusammenzucken und dann zu ihm blicken ließen. Der kleine Junge wirkte urplötzlich erstarrt. Die Dame, an dessen Habe er sich gerade bereichern wollte, bemerkte den Übeltäter zu spät und wollte gerade nach ihm greifen. Wie ein Wiesel gelang es dem Drecksspatz sich dem Griff der Bürgerin zu entwinden und davon zu eilen. Phoebe wirkte überrascht, dass sich das Kind so schnell gefangen und die Beine in die Hand genommen hatte, ließ darauf schließen, dass es nicht der erste Raubzug war. Polternd stürzte der Gefreite los, als dassKinderwiesel die Flucht ergriff: „Stehen bleiben!“, brüllte er dem Kleinen noch hinterher. Die Novizen nahm ebenfalls die Verfolgung. In einer Hand den Übungsstab und in der anderen den Saum des Kleides gehoben, sodass sie nicht drauftritt.
Hinter der nächsten Ecke konnte Phoebe das Klappern und Poltern der Rüstung vernehmen. Sie folgte diesem Geräusch, auch wenn Wachmann und Kind außer Sichtweite waren. Die Schritte entfernten sich, schneller als Phoebe vermutet hatte; schließlich begriff sie auch wieso. Als sie in die nächste Ecke einbog, von der sie glaubte, weiteres Rüstungsklappern gehört zu haben, fand sie sich in einer Sackgasse wieder. Sie hatte in der Hatz vollkommen ausgeblendet, wohin sie eigentlich gerannt war. Sie war nur dem Geräusch gefolgt. Fragend sah die Novizin herum und in eben jener freien Minute schlug ihr das Herz bis zum Hals, bevor sich langsam wieder zur Ruhe kam. Der rötlich verfärbte Kopf hob sich zu den bräunlichen Ziegeln empor, die sie noch im schwindenden Licht der Abendsonne erkennen konnte. In wenigen Augenblicken, so wusste Phoebe, würde die Straße in der sie stand von vollkommener Dunkelheit verschluckt werden. Also drehte sie herum, um den Weg entlang zurück zu gehen, den sie gekommen war. Ich bin im Zwergendistrikt, dachte sie vor sich hin, während sie auf die Hauptstraße zurückfand: „Gefreiter?“, rief sie durch die einbrechende Dunkelheit und blickte links und rechts die Straße hinauf. Aus der Ferne konnte sie vergnügte Stimmen vernehmen die, so Phoebe wusste, aus der Taverne des Zwergendistriktes dringen mussten. Sie nahm den Weg zu ihrer linken und überlegte. Wenn sie dem Weg folgen würde, müsste sie irgendwann den nächsten Durchgang erreichen und wieder am Kanal rauskommen. Das Licht schwand immer mehr und noch immer war nichts von dem Gefreiten zu hören oder zu sehen. Phoebe sann darüber, noch einmal seinen Rang durch die stickige Nachtluft des Viertels zu brüllen, aber wie viel Sinn stand dahinter. Es könnte sich jeder Wachmann in der Nähe angesprochen fühlen. „Vielleicht ist er bereits zur Wachstube zurückgekehrt.“, murmelte die Novizin vor sich hin. Sie hatte kaum drei weitere Schritte vorausgesetzt, in dem Glauben bei der Wachstube die Lösung der Frage vorzufinden, da hörte sie ein blechernes Scheppern aus einer der Seitengassen, gefolgt von einer Tirade der Wut. Phoebe eilte dem Geräusch nach, da sie glaubte die Stimme ihrer sonst so stummen Begleitung vernommen zu haben. Auf dem Weg zur Gasse, die am klarsten die Stimmquellen wiedergab, entzündete die Novizin an der Spitze ihres Stabes ein magisches Licht. „Verdammter Bengel! Wenn ich dich in die Finger kriege du kleiner…“, das Wutgebrabbel wurde immer klarer und Phoebe wusste, dass sie richtig war. Ihre Schritte verlangsamten sich und sie hob den Stab zur Erleuchtung der dunklen Gasse an. In unmittelbarer Nähe sah sie dann einen großen, schillernden Haufen, der unverkennbar nur der am Boden liegende Wachmann sein konnte. Hastig blickte sich die Novizin um, schwenkte den Stab hin und her, um die Lage zu prüfen, ehe sie eine entzwei gerissene Kordel, auf der wohl Spannung geherrscht haben musste, erblickte. „Novizin, seid Ihr das? Verdammt!“ Phoebe blickte wieder nach vorn und richtete den Stab auf den Wachmann, der sich nun mit Mühe wieder auf die Beine zu drücken versuchte. Das grobschlächtige Gesicht wirkte im schummrigen Licht verschrammt. „Ist alles gut bei Euch?“, fragte Phoebe in einem weichen Tonfall. „Ich habe Euch und den Jungen verloren…es tut mir leid.“ Sie packte den Gefreiten am Arm und stemmte sich entgegen seines Gewichtes, um ihm dabei zu helfen, sich aufzurichten. „Hab‘ ich gemerkt…“, knurrte der Gefreite und stierte mit verkniffenen Augen der erleuchteten Novizenfigur entgegen. Phoebe senkte die Spitze ihres Stabes und erleuchtete den Boden mit der gerissenen Kordel. Schnaubend folgte der Gefreite dem Neigen des Stabes. „Hab‘ ich zu spät gesehen…“, kommentiere er knapp wie auch angesäuert. „Dieser kleine Wicht is‘ mir schon mal aufgefallen. Hat damals Brot und Fleisch vom Markt geklaut. Is‘ schnell wie ein Wiesel und gerissen wie…“, ein tiefes Seufzen erklang. Phoebe betrachtete das verschrammte Gesicht. Sie konnte nachempfinden, wie sich der Gefreite fühlen musste; einer gewissen Sache so nahe zu sein und sie dann dahingleiten sehen, war alles andere als erfreulich. Gerade als sie eben diesen Gedanken in Trostworte umwandeln wollte, setzte sich der Gefreite, leicht hinkend in Bewegung. Er sammelte sein Schwert und seinen Schild auf. Phoebe bedachte die beiden Werkzeuge mit einem kritischen Blick, den der Gefreite wohl aufzufangen schien: „Schaut nich‘ so.“, kommentierte er. „Ich hätte dem Balg schon nichts getan. Kommt jetzt, Novizin, wir sollten schon lange bei der Wachstube angekommen sein. Hab‘ selbst auch keine Laterne dabei, also müsstet Ihr die Umgebung erhellen. Nich‘ dass hier noch die ein oder andere Stolperfalle lauert.“ Die letzten Worte die der Wachmann sprach klangen wieder äußerst verärgert, als erwarte man von ihm, dass er sowas hätte kommen sehen müssen.
Schlurfend und hinkend schritt der Gefreite voran, Phoebe, den Stab vorhaltend um die Dunkelheit zu vertreiben, neben ihm her. Schweigsam gelangten sie auf die offene Straße und steuerten zielstrebig den Ausgang des Zwergendistrikts an. „Wo ist er denn hin?“, fragte Phoebe mit sanfter Stimme. „Abgehauen, über die niedrigen Dächer weg. Vermutlich in sein Versteck zurück gekrochen…“, brummte der Gefreite. „Was hättet Ihr mit dem Jungen angestellt, wenn Ihr zu fassen gekriegt hättet?“, mit gekrauster Stirn lag ihr neugieriger Blick auf dem Wachmann, der kurz inne hielt um zu verschnaufen. Die durch Leder geschützte Hand fuhr an die Nasenwurzel, um diese zu reiben. „Ich hätte ihm kein Leid zugefügt, verstanden?“ die Stimme des Gefreiten klang genervt. „Ich hätte ihn mir zur Brust genommen…gescholten ja…aber…“ seine dunklen Augen fixierten Phoebe nun klar und deutlich. „Ich hätte ihm kein Leid zugefügt. Ich hätte ihm gesagt, dass er etwas falsch gemacht hat und es andere Wege gibt, um an Essen zu kommen. Für sowas muss man nich‘ klauen…nich‘ in einem so jungen Alter. Ich weiß, was Ihr denkt…Ihr denkt, so ein großer Grobian wie ich, hätt‘ den Kleinen in Sägespäne verwandelt…“ Etwas angriffslustiges lauerte in der Stimme der Wache, als erwarte er nur die nächstbeste Erwiderung um zum nächsten verbalen Schlag ausholen zu können. Doch der blieb von Phoebes Seite her aus. Sie schaute nur weiter in das aufgeschürfte Gesicht. Der Wachmann schien seine impulsive Handlung bemerkt zu haben und sah einen Moment schnaufend zu Boden. „Entschuldigt, ich hätte nich‘ so aufbrausend werden dürfen. Natürlich weiß ich nich‘ was jemand wie Ihr denkt.“ Er sah kurz in den dunklen Nachthimmel und rieb sich wieder die Nasenwurzel. „Ich hätte das Kind zur Matrone ins Waisenhaus gebracht. Dort wäre er besser aufgehoben. Hätt‘ was zu Essen. Ein Bett. Das ist alles besser als ein Leben auf der verdammten Straße.“ Phoebe konnte gar nicht anders. Die Frage drang ihr über die Lippen: „Ihr sprecht aus Erfahrung oder? Ihr wisst, wie das Leben außerhalb eines guten Hauses und Familie ist.“ Wieder war es zuerst nur ein Schnaufen, welches zu hören war. „Meine Eltern sind damals beide im Krieg verstorben. Für die Allianz. Seitdem war ich es, der sich um alles kümmern musste…hatte noch zwei Brüder, die jünger und dümmer waren als ich. Hatten dauernd Ärger und all sowas…Dann bot einer dieser zwielichtigen Straßengestalten uns ein Geschäft an und wir, die wir so dumm und naiv und jung waren, hatten es angenommen.“ Der Wachmann starrte zu Boden und schwieg einige Atemzüge lang. „Was ist passiert?“, drang wieder Phoebes Neugierde empor und sie wiegte den Kopf schief, als sie den Vordermann so fragend ansah. „Ich weiß gar nich‘ wieso ich das hier alles überhaupt erzähl‘, Novizin. Es is‘ eigentlich nichts für Eure Ohren. Aber um es kurz zu machen: Ich hab‘ einen Fehler begangen und dabei auch noch den letzten Rest meiner Familie verloren. Ich weiß, wie gefährlich die Straßen sein können. Gerad‘ für Kinder.“ Er schüttelte den Kopf. „Is‘ ja auch egal. Wir sollten den Leutnant nun nich‘ warten lassen. Ich seh‘ mich schon diese verdammte Situation erklären, wenn ich so verschrammt vor ihn komm…“ Phoebe akzeptierte den Wunsch, das Thema nicht weiter auszuweiten. Immerhin kannten sie einander nicht einmal beim Namen. Unweigerlich fühlte sie sich einmal mehr darin bestärkt, dass die Wachen auch nur Menschen und keine seelenlosen Figuren waren, die nach Belieben im Namen des Gesetzes agierten. Sie hatten alle ihre Geschichte, manche mehr und manche weniger und sicher gab es auch den ein oder anderen Unhold. Aber nichts desto trotz war ein Einblick wie dieser für sie Grund genug, nicht den Glauben in die Stadtwache zu verlieren, wie es bei manch anderem Gesell der Fall gewesen sein mochte.