Tief durchatmend klappte sie das Buch zu. Einen Moment lang ruhte ihr Blick auf dem schweren ledernen Einband und sie zeichnete mit den Fingern die eingravierten Lettern nach, ehe sie sich mit der selben Hand durch das Gesicht strich. Irgendwann hatte sie aufgehört zu zählen, wie oft sie bereits durch die bruchstückhaften Aufzeichnungen gestöbert hatte. Immer in der Hoffnung etwas zu entdecken, was ihr zuvor entgangen war und sie der Lösung des Rätsels und ihren vielen offenen Fragen ein Stück näher bringen könnte. Doch auch dieses Mal bewahrten die jahrhunderte alten Zeilen ihr Geheimnis.
Der Blick der weißgoldenen Lichter wanderte zur gegenüberliegenden Seite des kleinen Raumes, tief in den Katakomben des Träumerhains, und betrachtete gedankenverloren die Gestalt, die auf dem Lager dort ruhte. Sein Atem floss langsam, in einem ruhigen, gleichmäßigen und nur bei genauer Betrachtung wahrnehmbaren Rhythmus. Seit er in der Obhut des Zirkels war, hatte sich sein Zustand deutlich verbessert. Obgleich er noch immer hager wirkte, war sein Körper gesund und es gab keinerlei Anzeichen einer Verderbnis. Gleichwohl hatte die lange Gefangenschaft ihren Tribut gefordert. Der Horror dieser verlorenen Jahre lag in den Linien in seinem Gesicht und das ehemals nachtblaue Haar war bis auf wenige Strähnen Weiß wie Kalkstein. Doch wie tief hatte sich das Erlebte in seinen Geist gegraben?
Erneut atmete sie tief durch, legte das Buch endgültig zur Seite und erhob sich, um zu Sintarion Nachtfeder hinüber zu gehen. Ihre Finger fuhren über seine Stirn und strichen ein paar der weißen Strähnen zurück. “Wo bist du?”, murmelte sie, während ihr Blick in seinen Zügen forschte, die entspannt und friedlich wirkten.
Sie unterdrückte den Impuls, ihn bei den Schultern zu greifen und zu schütteln. Stattdessen schnaufte sie amüsiert ob ihrer Regung, wußte sie doch nur zu gut, dass dies ein gänzlich nutzloses Unterfangen wäre. Sein Geist war fort, weit weg.
Sie vermutete in seinem Zustand ein bewusstes Zurückziehen, ein Schutzmechanismus, der vielleicht während seiner Gefangenschaft notwendig geworden war oder auch schlicht seine einzige Möglichkeit der “Flucht”. Sein Schlaf wies alle Merkmale des druidischen Traumschlafs auf, bis auf den Umstand, dass es bisher nicht gelungen war, ihn zu wecken. Vielleicht eines Tages. Bis dahin würde die Sehnsucht nach dem Vater und die Beantwortung all der Fragen, die ihr auf der Seele brannten, warten müssen.
Für den Augenblick hoffte sie, dass wohin auch immer sein Geist sich geflüchtet hatte, es dort schön war und es ihm gut ginge. Der Gedanke ließ sie ihn beinahe beneiden… ob der Ereignisse der letzten Jahrzehnte und alles, was ihrem Volk zugestoßen war…wer würde schon in eine Welt wie diese erwachen wollen?
Die kleine Kaldorei richtete sich auf, streckte den Rücken durch und sah zu dem Wächter. Der Taure bewegte den massigen Schädel und nickte angedeutet, als erahne er ihre Gedanken und wolle ihr Zuversicht zusprechen. Luthien schenkte ihm ein kleines Lächeln. “Achtet gut auf ihn, Bruder. Musha’s Licht mit Euch.”
(@Inyari: danke dir^^ blödes Forum… )