Meine rechte Hand streicht über das rissige Holz der Baumwurzeln, die aus dem felsigen Untergrund neben mir ragen wie lange, dürre Finger. Sanft spüre ich das Leben in ihnen pulsieren, einem unablässigen Herzschlag folgend, der immer und immer wieder erklingt. Ich ziehe meine Kraft aus diesem Beben. Die Kraft, die ich brauche, um meine Schritte fortzusetzen. Um mich herum weht die kühle Luft des Sees. Meine müden Augen wandern in Richtung der spiegelnden Oberfläche und ich sehe das beruhigende Leuchten von Mutter Mond, das auf den feinen Wellen tanzt. Es sind nur Wimpernschläge, die ich an diesem Ufer verbringen darf, mehr gestatte ich mir nicht. Ein hastiges Rasten, das aus der Unruhe geboren wurde. Die fernen Rufe der Käuzchen, das leise Surren der Flügelschläge der Motten, die diese Lichtung so besonders machen, als das ist derzeit nicht mehr als ein fernes Hallen aus einer anderen Welt. Es erscheint unwichtig vor dem, was hier geschieht.
Wieder suchen meine Fingerspitzen Halt in dem knorrigen Wurzelwerk, das mit jedem Schritt, den ich in die Nähe der östlichen Gebirgskette setze, unscheinbarer wird, bis es gänzlich verschwindet, um harten, undurchdringlichen Stein zurück zu lassen. Je weiter ich dem gewundenen Pfad von Nachthafen hier heraus folge, desto mehr nimmt der erdige Geruch zu, der meine Sinne berührt. Fernes Stimmengewirr dringt an meine Ohren. Innerlich fühle ich das Drängen, umzukehren, doch ich gebe ihm keinen Raum. Ich weiß, dass die Einheit heute nach Schwester Morgenglühen suchen wird. Doch ich habe meinen Weg in Sturmwind gewählt und ich werde ihm bis an das Ende folgen, auch wenn das bedeutet, dass ich an ihrer Rettung erst einmal keinen Anteil haben werde. Ich werde hier gebraucht und der Krieg wird auch danach noch auf mich warten.
Meine Finger umfassen die kleine Holzschale fester, in der, unter einem groben Leinentuch verborgen, einige Honigkekse ruhen. Ich habe Anrael versprochen, dass ich ihm etwas aus Nachthafen mitbringe und das war das Einzige, was ich auf die Schnelle auftreiben konnte. Zeit ist ein kostbares Gut geworden in Stunden wie diesen. In Momenten, in denen Kaldorei als Feinde erwachen und in denen die Seuche unablässig ihre klammen Fangarme nach allem ausstreckt, was sich ihr nicht entziehen kann. Wer weiß schon, was morgen Nacht geschehen wird? Ich versuche das Lächeln, das beim Gedanken an die Kinder meine blassen Züge erhellt, nicht zu verlieren. Noch immer ist nicht klar, wie es mit ihnen weitergehen wird. Vor allem nicht nach den jüngsten Vorfällen.
Die hohen Bäume weichen und geben den Blick auf die klägliche Ansammlung von Zelten frei, in denen wir die Kranken untergebracht haben. Noch bevor ich gänzlich aus dem Schatten getreten bin, höre ich den mittlerweile vertrauten Ruf der Kinder, die mich bemerken.
„Da ist sie!“, „Gaomee!“, „Endlich!“
Ich glaube, Anraels Stimme in dem Durcheinander deutlich auszumachen und frage mich, wie so oft in letzter Zeit, was er und die anderen an mir finden. Trotz der Verwirrung, die ihr Geschrei in mir auslöst, kann ich ein helles Lachen nicht gänzlich unterdrücken, als diejenigen, die gesund genug sind, auf mich zugeschossen kommen und mir das Gebäck förmlich aus den Fingern reißen.
„Wo warst du so lange?“ Mireani, ein kleines Mädchen mit grasgrünem Haar, das trotz eines dick einbandagierten Beines mit den anderen mitgerannt ist, sieht mich mit einem vorwurfsvollen Ausdruck in den mondlichtfarbenen Augen an. Ich schenke ihr ein kurzes, aber freundliches Lächeln, das jedoch rasch verblasst, als ich sehe, dass der Verband an ihrem Bein schon wieder rot verfärbt ist. Die Wunde darunter scheint einfach nicht heilen zu wollen und ich ertappe mich dabei, wie ich ängstlich nach weiteren, heimlichen Anzeichen Ausschau halte, die mir einen Krankheitsausbruch bei ihr bestätigen. Ich nehme mir vor, sie genau im Auge zu behalten, komme jedoch nicht mehr zu weiteren Gedanken, weil auch Anrael nun direkt vor mir auftaucht.
„Wie ist es oben?“ Seine Stimme klingt viel zu erwachsen, als er mich mit fragendem Blick ansieht. Insgeheim habe ich das dumpfe Gefühl, das hinter seiner Frage mehr steckt, als die einfachen Worte, die ich höre. Ich bemerke, dass er als einziger noch keinen Keks in den Händen hält. So war es schon in Sturmwind. Erst alle anderen, dann er.
Meine bernsteinfarbenen Augen erwidern seinen Blick ruhig. Als ich ihn kennenlernte, war er ihm beinahe immer sofort wieder ausgewichen. Seitdem sind nun beinahe sechzehn Tage vergangen. Tage, in denen er seinen Mut wieder gefunden zu haben scheint. Nun bin ich diejenige, die den Kopf abwendet. Meine Augen suchen den Kontakt zu Winteratem, während ich schweigend verharre. Erst, als ich mich suchend umblicke, stelle ich fest, dass er nicht da ist. Seine Abwesenheit irritiert mich und ich kann die Gefühle, die seine fehlende Gestalt auslöst, nicht recht deuten. Ich habe mich scheinbar zu sehr daran gewöhnt, ihn immer um mich zu haben. Kurz bildet sich eine Falte auf meiner Stirn. Wahrscheinlich bereitet er in Nachthafen den Einsatz mit vor. Ich rufe mir sein Gesicht in Erinnerung. Das letzte Mal, als ich ihn sah, wirkte er ausgelaugt und müde und ich mache mir eine geistige Notiz, ihn an eigene Ruhepausen zu erinnern. Das bin ich ihm schuldig.
„Ihr werdet bald wieder losziehen, oder?“
Anraels Frage bestätigt meine Vermutung hinsichtlich seiner Gedanken. Ich seufze und mustere ihn. „Hast du wieder die Gespräche belauscht?“ Meine Stimme klingt nicht halb so streng, wie ich es gerne hätte und doch scheint es zu genügen. Die Ohrspitzen, die unter dem halblangen, blauschwarzen Haar hervorlugen, dunkeln merklich. Ich versuche mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich diese Regung belustigt, sondern lasse meine Augen weiterhin auf ihm ruhen. „Vielleicht…, ein bisschen.“, kommt es nach einer Weile zerknirscht aus seinem Mund und ich nicke flüchtig.
„Dann hast du deine Antwort auf diese Frage bereits.“, entgegne ich und will mich abwenden.
„Ich will aber nicht, dass du gehst!“ Seine Hand schnellt vor und hindert mich am Fortgehen. Meine Bewegung gerät ins Stocken, als ich die unterdrückte Angst in seiner Stimme höre. Wieder kehrt mein Augenmerk zu ihm zurück. Ich wünschte, ich könnte ihm etwas anderes sagen, aber so antworte ich möglichst behutsam.
„Du weißt, dass ich nicht für immer hierbleiben kann. Irgendwann wird meine Einheit endgültig weiterziehen und ich mit ihr.“ Meine Stimme klingt leise, aber bestimmt. Ich sehe das wilde Aufflackern von etwas, das ich als nackte Panik deute, in seinen Lichtern und doch merke ich auch, dass er versteht. Wie gern würde ich ihm versprechen, dass ich ihn mitnehme, dass ich nicht lange fortbleibe, dass ich zurückkehre. Aber nach all den Geschehnissen, nach allem, was ich über seine Eltern weiß, den Verlust, den er und seine Schwester erlitten haben, so bringe ich diese Worte einfach nicht über meine Lippen. Sie wären gelogen. Er ist noch ein Kind und in meinem Leben hat er keinen Platz. Besser also nichts erwidern. Er weiß so gut wie ich, dass der Tod unserem Volk auflauert. Allein Elune weiß, wie lange ich ihr noch im Leben dienen werde.
Anraels Kopf senkt sich. Er wendet sich halb ab und greift nun auch nach einem der übrig gebliebenen Kekse. Während die kleinen Stücke des Gebäcks zermahlen in seinem Mund landen, verzieht sich seine Miene nachdenklich.
„Kann sie uns nicht im Traum besuchen kommen?“, mischt sich Mireani plötzlich ein. Erst jetzt bemerke ich, dass sie die ganze Zeit unserem Gespräch zugehört hat und fühle mich mit einem Mal unwohl. Anraels Blick sucht den meinen und ich hebe einen Mundwinkel, in der Hoffnung, ihm etwas Ruhe zu schenken. Woher soll er auch wissen, dass ich noch nie willentlich in anderer Wesen Geist eingedrungen bin. Er nickt. Wieder hat er diesen Ausdruck in den Augen, der nicht zu seinem Alter passen will.
„Dann ist doch alles gut!“ Mireani klatscht zufrieden mit den Händen aneinander und humpelt zum Zelt zurück. Auch die anderen Kinder sind bereits schon wieder dorthin verschwunden.
Ich folge Mireanis schwerfälligem Ganz mit sorgenvollem Blick. Ihre Lebhaftigkeit wirkt unnatürlich im Zusammenhang mit der Verletzung. „Ich weiß, dass du das könntest…“ Auch Anraels Blick liegt auf seiner Schwester. Er sieht mich nicht an, als er das sagt. Mein Herz klopft mit einem Mal. Sein Gesagtes bringt eine Saite in mir zum Klingen, die noch nicht angeschlagen wurde und ich weiß sie nicht zu deuten. Aber Anrael scheint meine Bestürzung ob seiner Worte nicht zu registrieren. Seine Hand, in der er den Keks hält, ballt sich. Feine Krümel rieseln zwischen seinen Fingern zum Boden und lenken mich erneut von meinem eigenen Ich ab.
„Weißt du“, sagt er schließlich düster. „Ich würde dich gern am Leben wissen und nicht nur als Geist in meiner Erinnerung.“. Er wendet sich abrupt ab und folgt den anderen Kindern eilig, als habe er Angst, dass ich ihn zurückrufen könne. Mich selbst lässt er sprachlos zurück.