Meine Füße führen mich mit großen Schritten durch Nachthafen, sodass Farben und Gebäude, ja sogar Personen an mir vorbei rauschen und unbedacht bleiben. Zuerst muss ich nach Sturmfeder sehen. Danach würde ich Eisenwind mit ihrer Bewachung beauftragen und mich der Sache mit diesem anderen Auftrag beschäftigen. Ich schüttle den Kopf, als ob ich damit die wirren Gedanken ordnen könnte. Vergebens. In letzter Zeit bleiben soviele Dinge an mir hängen, dass ich ihnen kaum allen Gerecht werden kann. Windherz’ im Schlaf kontrollieren, Sturmfeder bewachen, Quentris’ Training beaufsichtigen, das Training der anderen voran treiben, auf Nachrichten von der Front warten und diese sichten… Und da war auch noch die Sache mit Bärenherz, die ich unbedingt klären musste. Bisher hatte ich nur keine Gelegenheit gehabt, sie abzufangen. Mit einem stummen Seufzen vermerke ich innerlich, dass ich mich dringend dieser Angelegenheit widmen muss. Später. Später. Wie immer „später“.
Während ich so dahin laufe und Nachthafen hinter mir im typischen Grün der Mondlichtung verschwindet, treiben meine Gedanken fort von all diesen Pflichten. Weg von Wache, Trainings und Bestrafungen. Fort von klärenden Gesprächen, Nachrichten und Informationen. … und hin zu etwas, dass mich persönlich mehr beschäftigt als ich gedacht hätte.
“Habt ihr viele Freunde in der Einheit?“ Mondbruchs Stimme, klar und deutlich wie stets, hallt in meinen Gedanken wider. Freunde. Ein streitbares Thema. Denn zuallererst käme es doch darauf an, wie man Freundschaft definierte, oder? Ob man bereits Sympathie für jemanden als Freundschaft benennt oder erst der Zustand absoluten Vertrauens. Es gab immerhin unzählige Vorstufen einer Freundschaft und etliche ähnliche Zustände daneben. Freundschaft war eben nicht gleich Freundschaft. Und der Weg bis zum „Freund“ war sicher auch nicht immer dergleiche. Freunde. Braucht es das überhaupt? Brauchte es das innerhalb einer Einheit? Könnte man keine Einheit sein, könnte man sich nicht vertrauen und miteinander kämpfen, ohne Freunde zu sein? Haben Freunde überhaupt etwas mit der Einheit zutun? Haben Freunde Platz in soetwas, ganz wie Smaragdbund sagte, dass derart militärisch strukturiert ist und einer gewissen Rangfolge bedarf? Oder ist es gerade Freundschaft, die die einzelnen Personen zusammenhält und sie stark macht? Ich bin mir sicher, das einige den ein oder anderen in der Einheit Freund nennen würden. Aber macht sie das besser, schneller, stärker, gehorsamer, leistungsbereiter als andere? Tut es etwas für die Einheit, dass der eine den anderen Freund nennt?
Freunde. Freundschaft. Ich mag den Begriff nicht. Denn er gibt mir vielzuviele Rätsel auf. Es gibt einfach zuviele Blickwinkel, zuviele Definitionen, zu viele Wenns und Abers. Man kann nie wissen, wie das Gegenüber „Freundschaft“ definiert. Und so kann es doch vorkommen, dass man sich „Freunde“ nennt, aber etwas vollkommen anderes meint. Während der eine, ganz so wie Windherz es definiert, Freunde mit großem Vertrauen verbindet und beinahe einer Familie gleichsetzt, denkt der nächste vielleicht dabei nur an einen lockeren Bund. An jemanden, mit dem der gut reden kann und den er sympathisch findet. Wieder ein Anderer meint vielleicht, das Freundschaft mit gewissen Bedingungen verknüpft ist, die das Gegenüber erfüllen muss. Aber woher weiß der angebliche Freund das? Wer legt eigentlich die Regeln für so eine Freundschaft fest?
Wenn ich für mich persönlich sprechen müsste, ist Freundschaft sowieso nicht vonnöten. Nicht für mich. Ich muss ihnen kein Freund sein. Niemand muss mich mögen. Sie müssen mir nur genug Vertrauen, mich genug Achten, sodass ich sie führen und retten kann. Zumindest versuchen sie zu retten, sie heil durch das alles hindurch zu bringen. Aber wäre es vielleicht leichter, wenn sie mich als Freund sehen würden? Wenn sie mir vertrauen, mich als Familie sehen und sympathisch finden würden? Nicht, dass das irgendwie möglich wäre. Aber wenn doch…?
Ich schnaube und biege kurzerhand nach rechts in den Wald ab. Meine Nase hat Witterung aufgenommen. Sturmfeder ist in der Nähe. Ohne wirklich hinzusehen schlüpfe ich durch das Unterholz ohne wirkliche Probleme dabei zu haben. Mein Körper macht diese Art von Arbeit ganz selbstverständlich und vollkommen autark. Wieso auch nicht? Ich tue dergleichen seit Jahrtausenden. Und weil ich meine Aufmerksamkeit nicht wirklich benötige, außer für die grundlegenden Dinge, kehren meine Gedanken zurück zu diesem leidigen Thema „Freundschaft“.
Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass sich soviele Personen in einer militärischen Einheit alle gleichmögen und Freundschaft schließen könnten. Und wenn doch, dann gäbe es immernoch einige gravierende Probleme: Wie könnte ich die Einheit anführen, sie in den eventuellen Tod schicken, ertragen das sie verletzt und gepeinigt werden, wenn sie doch alle meine Freunde wären? Selbst wenn nur einige meine Freunde wären… Zu ertragen dass sie verletzt werden wäre sicherlich schmerzhaft und schwer zu ertragen. Ich würde automatisch jene beschützen, die meine Freunde sind. Ich würde sie gesondert betrachten, anders behandeln und behüten. Aber das ist nicht meine Aufgabe. Innerhalb der Einheit muss ich alle gleich sehen. Ich muss sie nach ihren Vor- und Nachteilen beurteilen, sie nach ihrem Können kategorisieren, sie neutral sehen und einsetzen, egal was da kommen mag. Ich muss aushalten können, dass ich sie eventuell in den Tod schicke oder dass sie aufgrund meines Befehls verletzt werden. Und sie müssen ertragen, dass ich dazu befähigt bin. Könnten sie das, wenn ich ihr Freund wäre? Würden sie mir verzeihen, dass ich sie gefährde oder das ich sie derart gefühlskalt bewerte? Und egal welche Antwort es darauf gibt, kommt dann doch gleich das nächste Hindernis: Was wäre das für eine Freundschaft, wenn der eine Kontrolle über den anderen hätte, wenn einer sich dem anderen beugen und seinen Befehlen gehorchen müsste? Eine ziemlich dürftige Freundschaft. Kann man es überhaupt Freundschaft nennen, wenn einer Macht über den anderen besitzt?
Mein Kopf raucht, als ich durch ein dichtgewachsenes Gestrüpp klettere und endlich den Blick frei habe. Auf einer Lichtung hockt Sturmfeder in Elfengestalt. Ruhig sitzt sie da und scheint zu meditieren. Ich brumme stumm und bleibe auf Distanz, um die Druidin zu mustern und mir ein Bild über ihren Zustand zu machen.
Ich bin nicht ihr Freund und sie sind nicht meine Freunde. Niemals. Denn immerhin diene ich ihnen. Und wenn ich eins in meinem Leben bitter gelernt habe, dann, dass Freunde keine Diener sind.