In der weitläufigen Halle klang jeder Schritt der Elfe gefühlt doppelt so laut nach wie es eigentlich hätte der Fall sein sollen. Die Zeit schien still zu stehen. Ihr Herzschlag schien einen jeden Schritt begleiten zu wollen, als habe sich ihr Herz nun ganz dem Rhythmus ihres Wegs verschrieben, und nicht länger dem was ihr Körper benötigte. Ihrer Einschätzung nach war sie ganz allein im Sanktum, denn durch die Abwesenheit der meisten anderen waren auch die wenigen die nicht nach Cordberg aufgebrochen waren nur sehr selten hier. Zudem musste es so früh am Morgen sein dass es Neada gewundert hätte hier jemanden anzutreffen. Als sie das Haus im Zwergenviertel verlassen hatte war es noch dunkel gewesen, kein Anzeichen der sich bald erhebenden Sonne hatte die Elfe am Himmel ausmachen können. Vielleicht würde die Sonne nicht einmal aufgehen? Dieser Gedanke kam ihr so plötzlich, dass sie stehen blieb. Das Fehlen der Stiefelsohlen die auf den nackten Steinboden trafen ließ die Stille im Sanktum nur noch vollkommener erscheinen - gar ein wenig bedrohlich.
’Deine Sonne geht nie wieder auf…'
Die Stimme in ihren Gedanken, tief und doch so ruhig, so verheißungsvoll dass am Wahrheitsgehalt der Worte kaum zu zweifeln war, ließ Neada zusammenzucken. Sie wirbelte herum, blickte sich um, doch sie konnte niemanden erkennen. Die Kerzen an den Wänden flackerten sanft, warfen kleine Schatten in ihre nahe Umgebung, schafften es aber nicht die ansonsten zu dieser Stunde hier herrschende Dunkelheit gänzlich zu vertreiben. Auch der große magische Leuchter hoch oben inmitten des Rundgangs, dessen Kristallgefäße tagsüber mit blauem Feuer gefüllt waren und die Haupthalle des Sanktums mit Licht erfüllten, schenkte der Galerie nun gerade das Maß an Licht das nötig war um sich orientieren zu können.
’Die Dunkelheit umgibt dich, Kind der Schatten. Ich habe dein Herz gesehen und ich kenne den Wunsch der darin brennt. Er kann in Erfüllung gehen.'
Neada schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und schob ihre Füße ein klein wenig auseinander als erwarte sie einen körperlichen Angriff - doch dieser Angriff war, das wusste sie, rein mental. Das Geräusch ihres Stiefels der flach über den Steinboden kratzte ließ es ihr eiskalt den Rücken herunter laufen.
’Die Ringe haben es verheißen, Kind der Schatten. Ein Jeder wird mir dienen, in ewiger Folgschaft in Ketten gelegt, wie ich auch ewig in Ketten lag. Willens, oder nicht. Lang war mein Schlaf, nun träumen wir alle gemeinsam von den schwarzen Türmen meines Reiches.'
Zittrig atmete Neada aus. Die Stimme klang auf eine morbide Weise süßlich, ja sogar anstößig in ihren Ohren nach, als würde sie ihr eine zutiefst verwerfliche Sünde schmackhaft machen wollen. Langsam, denn vielleicht war jede Bewegung der Beginn vom Ende, hob Neada die Hände und führte ihre eiskalten Fingerspitzen an ihre Schläfen. Mit einem sanften Druck massierte sie ihren arg strapazierten Kopf. Zwei Nächte ohne Schlaf zehrten an ihr, ebenso wie die Stimme an ihr zehren wollte. Doch war es nur die Stimme, oder eher die Essenz der Stimme?
’Du bist des Suchens müde, Kind der Schatten. Deine Augen können nicht verraten was dein Herz begehrt, und niemand außer dir und mir kann sehen was dieses Begehren ist. Welch Sehnsucht in dir brennt und dich verschlingt, wann immer du glaubst allein zu sein und dich den Wünschen hingibst, die aus deiner Schuld geboren wurden. Ob sie dir jemals verzeihen werden?'
Neada wandte sich ruckhaft um, in einem kläglichen Versuch die Stimme zum Schweigen zu bringen. Doch es war nicht das übliche Flüstern der Leere, das ihr nur sehr selten so arg zu schaffen machte. Sie wusste dass die Worte, die sie gerade in ihrem Kopf hörte, von etwas viel bösartigerem, von etwas viel älterem stammten. Von etwas das sie vielleicht beobachtet hatte seit sie selbst geboren worden war. Vor Neadas Augen erschienen Bilder der Erinnerung, verschwommen zwar, aber gerade noch nah genug an den Grenzen der Klarheit dass sie erkennen konnte was sie sah: Ein Mädchen, mit weißblonden Haaren, das lachend eine Straße im gleißenden Sonnenschein entlang lief. Dieser Anblick ihres einstigen Selbst ließ Neada abermals zittrig ausatmen - und die Lungen blieben leer als sich dieses Bild plötzlich veränderte, und überall um das Mädchen herum, an Hausfassaden, Bäumen und den hohen Türmen von Quel’Thalas rot glühende Augen erschienen. Das Mädchen lief lachend weiter, sie sah nichts von alldem - aber sie wurde gesehen. Immer war sie gesehen worden. Er hatte gewusst was aus ihr werden würde. In jungen Jahren ein Kind der Sonne, dazu verdammt in Schatten getaucht zu sein.
Als Neada die Augen öffnete, obwohl sie sich nicht erinnern konnte sie geschlossen zu haben, erschrak sie abermals. Am Eingang des Sanktums stand jemand, zweifellos. Wer es war konnte sie auf die Distanz und ob der sehr dürften Lichtverhältnisse nicht erkennen, aber in der Dunkelheit zeichneten sich gerade deutlich genug die Umrisse ab. Die Gestalt bewegte sich nicht. Vielleicht hatte der Besucher, wer immer es auch war, durch das schwache Licht noch nicht bemerkt dass jemand in der Halle war. Neada ließ die Hände sinken und ging langsam los. Sie wusste dass das Erscheinen dieser Person ihr gerade eine Menge Leid erspart hatte, denn die Stimme war nun verklungen da die Elfe ein Ziel hatte auf dass sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren konnte. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Eingang und damit dem Besucher, denn den Umrissen nach die nun immer deutlicher wurden, handelte es sich um einen Mann.
Und als sie endlich nah genug war, kippte die Welt. Nichts war mehr wie es sein sollte. Neada fixierte die Gestalt die dort stand, den Quel’dorei mit schulterlangen, dunklen Haaren. Die falkenartigen Augen, wachsam und auf diese markante Weise leicht verengt die seinem Antlitz etwas anmutiges, und zugleich dezent arrogantes verliehen. Sie hatte diesen Blick geliebt. Ihr Herz quoll vor Emotionen über als sie den Elfen einfach nur anstarrte. Er war zurück. Nach Jahren, Jahrzehnten des endlosen Wartens war er zurückgekehrt zu ihr. Alles was sie seit damals nicht mehr hatte fühlen wollen prasselte nun auf sie ein, wie ein Wasserfall aus den höchsten Bergen. Es ertränkte sie. Minutenlang stand sie einfach da, und starrte den Quel’dorei an. Er hatte sie inzwischen bemerkt, und erwiderte ihren Blick. Worte hatte er bislang nicht an sie gerichtet, einzig das Augenpaar mit dem er sie fixierte zeugte davon dass er ihre Anwesenheit vernahm.
Neada wollte etwas sagen, aber die Worte blieben ihr im Hals stecken. Er erkannte sie nicht. Zweifellos weil so viele Jahre vergangen waren seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Er war noch immer ein Quel’dorei, doch sie, seine Frau, war im Laufe der Zeit durch verschiedenste Stadien gegangen. Zunächst wie der Großteil ihres Volkes als Sin’dorei, dann gemeinsam mit einer kleinen Minderheit als Ren’dorei. Es war nichts mehr übrig von ihrem damaligen Selbst, das er so gut gekannt hatte wie sonst niemand. Aber es war egal, denn er war hier und sobald Neada ihre Stimme wiederfand, würde sie ihm erklären was sie ihm nun allein mit Blicken mitteilen konnte.
Langsam bewegte sie sich auf den Elfen auf, und wieder hallte jeder Schritt in ihren Ohren nach. Ihr Herz raste nun buchstäblich, schickte Wogen aus Hitze durch ihren Leib und entfachte dadurch ein Feuer das so lange nicht gelodert hatte, aber nun nie wieder gelöscht werden konnte. Sie war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, als Neada die Arme hob. Indem sie ihn fest umarmte konnte sie ihm mehr sagen als Worte es jemals vermochten. Der Quel’dorei schrägte kaum merklich den Kopf, wich aber nicht zurück. Womöglich hatte er nun doch eine grobe Ahnung, wer diese Elfe war die mit erhobenen Armen auf ihn zukam und damit sehr deutlich ankündigte was sie zu tun gedachte sobald sie in Reichweite war. Und auch wenn ihr Anblick ihn irritieren mochte, so musste er diese Verbundenheit zu ihr zweifellos fühlen. Nun ho auch er die Arme. Für Fragen würde später Zeit sein. Zuerst galt als die Jahre aufzuholen die sie versäumt hatten.
Neada nahm den letzten Schritt, der sie endlich direkt vor den Elfen brachte, und schloss ihn in die Arme. Und es war als hätte sie sie aufgehört fühlen zu wollen. Bis ihr bewusst wurde dass ihre Arme nicht den Leib des Quel’dorei berührten, sondern nichts als die kühle Luft vor ihr. Panisch sah sie sich um - und als an den Wänden des Sanktums die selben rotglühenden Augen aufglommen die sie kurz zuvor in der Erinnerung ihrer eigenen Kindheit gesehen hatte, erkannte sie die Lüge der sie zum Opfer gefallen war. Vor Wut und Schmerz raufte sie sich die Haare, kniff die Augen zusammen und versuchte das leise, finstere Lachen in ihrem Kopf zu unterdrücken. Ebenso wie sie versuchte das Bild dessen was sie eben vor sich gesehen hatte zu unterdrücken. Daran zu denken und sich dem Gefühl hinzugeben dass sie ihn beinahe zurückgewonnen hätte, war noch qualvoller als der eigentliche Verlust. Er war fort. Fort, für immer und ewig, und es gab nichts was es ändern konnte.
Mit zittrigen Beinen sank Neada auf die nächste Sitzbank die an der Wand der Halle stand, unweit vom Eingang entfernt. Eine benommene Leere hatte von ihr Besitz ergriffen, und erfüllte sie mit Taubheit. Es fühlte sich gut an. Nichts zu fühlen, fühlte sich gut an. Das Feuer das in ihr aufgeflackert war, war vom Besitzer der Stimme wieder gelöscht worden.
„Miss?“
Eine zaghafte, aber doch feste Stimme erklang zu Neadas rechter Seite. Ruckartig hob sie den Kopf und suchte nach der Quelle der Stimme - ein paar Schritte entfernt stand ein Mann. Ein Mensch. Es war Neada sogleich klar dass die Stimme sie vorerst aus ihrem Klammergriff entlassen hatte, denn die Augen waren verschwunden und dieser Mensch war ganz eindeutig keine Ausgeburt oder Manifestation ihrer tiefsten Träume und Wünsche. Er hielt ihr einen versiegelten Brief entgegen. „Diese Nachricht ist an das Sanktum der Dämmerung gerichtet. Nehmt Ihr es entgegen?“ Offenbar bereitete der noch immer etwas benommene Zustand der Elfe ihm leichtes Unbehagen, Neada konnte es in seiner Stimme hören. Sie erhob sich langsam, und war dankbar dafür dass ihre Beine sie trugen. Der Mensch übergab ihr den Brief, verabschiedete sich und verließ die Hallen des Sanktums während Neada den Brief öffnete. Das Wachssiegel trug das Zeichen der Wacheinheit X.
Leise raschelnd entfaltete sie das Schreiben, trat näher an die nächste Kerze an der Wand heran, und las die Zeilen die man an das Sanktum gerichtet hatte.
Arbeit.