Vom ‚Alten‘ und den Tücken des Meeres
Die Sonne stand hoch über dem Hafen, als Eda Bram ihre Fischbrötchen auf dem alten Holztisch ausbreitete. Der Duft von gebratenem Hering und Zwiebeln hing schwer in der Luft, vermischt mit Salz, Teer und dem leisen Grollen der Möwen. Es war Mittagszeit, und die Dockarbeiter hatten sich wie jeden Tag in kleinen Gruppen eingefunden. Sie waren hungrig. Müde und wortkarg. Zwischen den Brötchen, den Töpfen und dem zerknitterten Tuch lag ein Blatt Papier. Grob, beige, mit Kohle gezeichnet. Darauf: ein Wal. Riesig. Bucklig. Mit einem Auge, das größer war als alles, was man je gesehen hatte. Ein paar Muscheln klebten an seinem Rücken, als wären sie mit ihm gewachsen. Die Linien waren rau. Und das Auge, das Auge war wissend.
„Was’n das?“, fragte einer der Dockarbeiter, ein breitschultriger Mann mit öligen Händen. „Der da… sieht aus, als hätt er Geschichten zu erzählen.“
Eda hielt inne. Ihre Hände ruhten auf dem Brötchenmesser. Sie sah auf das Bild, dann auf die Männer. Einer hatte sich bereits gesetzt. Einer stand noch, aber sein Blick hing am Walauge. Ein Weiterer hatte das Brötchen längst vergessen, das er eben noch bestellt hatte.
„Aye…“, murmelte sie, und ihre Stimme war plötzlich nicht mehr die einer Verkäuferin. Sondern die der besten Geschichtenerzählerin am Hafen. Jene, die zu jeder Tageszeit bereit ist, weil sie immer etwas zu sagen hat. Für jeden, der fragt. Oder nicht fragt. „Der Alte.“
Sie setzte sich, schob die Brötchen beiseite, und legte die Hände in den Schoß. Die Männer rückten näher. Die Möwen verstummten. Und Eda grunzte amüsiert, ehe sie noch einmal zum Bild sah. Dann aber begann sie zu erzählen. Ein wenig anders. Ein bisschen ernster. Als müsse man ihre Abenteuer eben hinnehmen. Ernst nehmen.
„Wir sind halt mitter Morgnrufer ausgelaufn, die Tage… wo 'ch nich da war.“ ein wissendes Raunen ging durch die Menge. Eines, das sich erinnert. Denn ohne Eda ist auch die Mittagszeit nur schwer zu überbrücken. Keine Eda, keine Fischbrötchen. Zumindest keine Guten! „N altes Handelsschiff, aber mit mehr Herz als Holz, wenna versteht?! Die Besatzung? Über dreißig Seeln, und jede davon nen Kapitel für sich. Der Koch warn ehemaliger Pirat, der Steuermann blind auf nem Auge, aber mit nem Gespür für Strömungn, das fast schon unheimlich war. Und dann war da noch die kleine Luma, kaum zwölf, aber mit ner Stimme, die selbst die Möwen zum Schweigen brachte, wenn sie sang… 'ch sachs euch.“ Sie hob die Brauen etwas an, als würde sie sich selbst wundern, dass sie das alles wirklich erlebt hat. „Wir warn unterwegs Richtung Südwindklippen, wolltn da die seltnen Muscheln ladn, die dort nur bei Vollmond zu finden sind. Alles lief ruhig, fast zu ruhig. Bis… nja…bis der Wal kam.“ dabei breiteten die Arme sich aus, um einen wirklich riesigen riesenhaften Wal anzudeuten. RIESIG!
Sie nickte auch nochmal. Sicher ist sicher. Schob die Zeichnung ein bisschen fort und atmete tief ein. „Aye… eh… wo war 'ch denn stehn gebliebn?“ Ein kurzes Schweigen. Das Kratzen des Hinterkopfes. Dann ein Lächeln, das irgendwo zwischen Stolz und Ehrfurcht pendelte. „Eh… ja… also… Nich irgendein Wal, Jungs.“ grinste sie. „Der war… riesig. Ich mein, wirklich riesig.“ Und nochmal folgte dabei die Demonstration mit der Öffnung beider Arme. Und sie hat wirklich lange Arme. RIESIG! Die Männer starrten sie an. Einer hatte den Mund leicht geöffnet. Der andere hatte sich auf den Tisch gestützt. „Die Mannschaft hatn ‚den Altn‘ genannt. Manche sagn, er sei so groß wien ganzes Dorf. 'ch schwör euch, sein Auge allein war größer als unser Beiboot. Und er kam nich wütend oder wild. Er kam… neugierig. Is neben uns hergeschwommn, als wär’n wq sein Spielzeug. Drei Tage lang.“ Sie hob die Hände abermals als wolle sie die Größe zeigen, aber gab dann eben doch auf. „Nei… eigentlich viel zu groß, ums in echt zu zeign.“ Aber sie hatte die Augen weit aufgerissen und wollte unbedingt suggerieren, dass sie überhaupt nicht übertreibt.
Und so lehnte sie sich etwas vor, die Stimme leiser, fast verschwörerisch. „Wie… eh auch immer…Die Mannschaft hat gemeint, er hätt die Flaute mitgebracht. Dasser uns… festgesetzt hat. Drei Tage lang kein Wind, kein Wellnschlag, nur dieses… riesige Wesn nebn uns. Wie’n Schatten, der sich nicht so richtig bewegt… also… er… lag nebn uns. Einfach so. Manchmal… hab 'ch 's Gefühl gehabt, dass 'ch ihn weinen hör. Oder lachn. 'ch kann die Sprache der Wale nich gut. Könnt alles mögliche gewesn sein. Sicher isser einsam und… aye… 'ch wär gern seine Freundin gewesn. Konnts ihm nur halt nich sagn. Also habn Luma und 'ch ihm was vorgesungn. Tag und Nacht. Und… dann hatter nich mehr geweint…oder gelacht. Vielleicht…fand ers nich so gut.“ Sie schnaubte leise, amüsiert. „Und…'ch glaub das auch nich. Also… dasses die Schuld vom Altn war. Dasser uns festgesetzt hat. 'ch glaub, er hat uns gerettet. Er hat nur so…lang gebraucht, weil er nich wusste, obs die Mannschaft wert is.“ Ein Dockarbeiter murmelte: „Und? Wart ihr’s?“ Ein kurzes Zucken ihrer Schultern, dann fuhr sie fort, die Augen nun nicht mehr die Arbeiter gerichtet sondern auf den strahlenden Horizont, hinter dem das Meer in seiner Unendlichkeit liegt. „Wir warn auch echt zu weit draußen. Die Strömung hatte uns verschluckt, und der Steuermann… naja, sein Gespür war gut, aber nich unfehlbar. Wir hättn die Klippen nie erreicht. Nicht rechtzeitig. Nicht mit dem Mond so nah.“ Sie funkelte die Anwesenden friedvoll an.
„Nach dem ersten Tag… da war noch Hoffnung. Man hat Kartn studiert, den Himmel befragt, gehofft, dass der Wind sich nur kurz ausruht. Aber am zweiten Tag… da war die See … wie’n Spiegel, Kauz. Kein Kräuseln, kein Zuckn. Nur dieses endlose, schwarze Tuch, das sich unter uns ausgebreitet hat. Und wir mittendrin. Total verlorn. Kein Wind, kein Geräusch. Nur der Atem vom Alten, wenner auftauchte. Und das war… leise. So leise, dass man sich selbst beim Denken gehört hat.“ Sie schnaubte leise, als wolle sie sich selbst aus der Erinnerung schütteln. „Die Mannschaft hat’s nich gut vertragn. Der Käpt’n… der hat sich noch zusammengerissen. Hat Befehle gebrüllt, als gäb’s was zu tun. Aber 's gab nix zu tun. Die Segel hingen wie tote Vögel. Und die Männer… die warn wie Kinder, die sich im Dunkeln verlaufen haben.“ Ein kurzes Schweigen, dann ging es weiter, die Stimme nun fast flüsternd.
"Einer hat gemeint, wir sin verflucht. Dass der Alte uns beobachtet, weil wir was gestohln haben. Dabei… also… aye. Wir habn ja noch keine Muschln gefundn. Warn ja nich angekommen. Und nen andrer hat angefangen, mit dem Messer zu reden. Hat’s ‚seinen Schutzgeist‘ genannt. Wieder einer hat versucht, ins Wasser zu springen, um zu fliehn. Als wär da irgendwo Land, wenn man nur tief genug taucht." Sie schüttelte den Kopf erneut. Etwas langsamer. „Und dann war da Luma. Die hat sich einfach auf die Reling gesetzt, die Beine baumeln lassen und gesungen. Wie’n Licht inner Dunkelheit. 'ch glaub, der Alte is ihretwegen geblieben. Oder… hat ihretwegen nich gefressen.“ Ein kurzes, raues Lachen. „'ch? Ich hab so getan, als wär alles normal. Hab’n Tau geflickt, das keiner brauchte. Hab’n Logbuch geführt, das keiner liest, weils… eh nur voll mit Bildern war… Hab Luma beim Singen begleitet, wenn keiner hingesehen hat. Aber Angst? Nee… die hab ich nich zugegeben. Nich mal mir selbst.“ Sie sah wieder in die Richtung wo das Meer sich hinter der Sonne verliert.
„Drei Tage lang war das Schiff wie’n Grab, das noch atmet. Und der Alte… der war wie’n Wächter. Oder wie’n Richter. Hat uns geprüft. Hat gewartet, ob wir’s wert sind.“ Sie hob die linke Hand, als wollte sie einen unsichtbaren Kurs nachzeichnen. „Der Alte… der hat mit uns gespielt. Wie Pingpong, sag’ch. Is ma links, mal rechts aufgetaucht, hat das Wasser bewegt, ohne uns zu berührn. Immer so, dass wir weiterkamen. Ganz langsam. Ganz sicher.“ Ein tiefer Atemzug. Dann ein leises, fast kindliches: „'ch glaub, er hat uns gemocht. Und 'ch hoff auch, dass 'ch ihn irgendwann wieder seh.“
Ein kurzes Schweigen breitete sich aus. Dann knurrte ein Magen. Einer der Männer sah auf die Uhr. „Mist. Pause vorbei.“ Eda stand auf, griff nach den Fischbrötchen, die sie nicht verkauft hatte, und schob sie den Männern zu. „Nehmt se mit. Für unterwegs. Die Geschichte war lang genug. Und der Alte… der hätt euch bestimmt auch was abgegeben. Weilers wert seid.“ Die Männer nahmen die Brötchen. Einer nickte. Einer murmelte ein Dankeschön. Und einer sah noch einmal auf das Bild, bevor er ging. Und Eda? Die setzte sich wieder. Die Laterne flackerte. Das Bild lag still. Und draußen wartete das Meer. Voll mit all den Abenteuern, die sie noch zu erleben hatte.