[A-RP] Von Krabben, Möwen und Frieden oder "Wie Herr Möhrfried blieb."

Von Narren, Hunger, oder von dem, der mit dem Wildschwein tanzt.

Die Fischerin hatte auf ihrem Kissen gehockt, die Knie angezogen, der Becher dampfte noch ein wenig, obwohl das Feuer längst mehr Glut als Flamme gewesen war. Die Papierlaterne neben ihr hatte rote Tentakel über die Mauern geworfen, und die Dockarbeiter hatten drumherum gesessen wie alte Krähen auf dem Dachfirst. Einer hatte geschnitzt. Einer hatte gedöst. Einer hatte gestarrt, als wäre Eda selbst das Tier aus ihrer Geschichte.

„Also…“, hatte sie begonnen, die Stimme rau wie ein Seil nach Sturm. " Es war inner Nacht, da war der Hunger größer als die Angst. Und der Mann, der hatte nix. Kein Zuhause. Keinen Namn, den man behalten wollt. Nur’n Stock. Und’n festen Willn, nich zu sterbn, bevor er satt war."

Sie hatte die Laterne gehoben, die Tentakel hatten getanzt. „Das Wildschwein war groß wie’n Boot. Nee, wie’n verdammter Lastkahn! Mit Hauern wie Ankerhaken und Augen wie glühende Kohlen. Und der Mann? Der hatte da gestanden. Mit seinem Stock. Und gesagt: ‚Aye. Wenn du mich fressen willst, dann tanz erst mit mir.‘“ dabei hatte Eda natürlich große, ausschweifende Gesten gemacht mit ihren Armen. Der Dampf aus ihrem Becher verwob sich so beinahe gekonnt mit den flackernden Tentakellichtern und machte die Atmosphäre etwas düsterer. Ein Dockarbeiter hatte geschnauft. „Tanzn?“ Eda grinste. „Aye. Der Mann war vielleicht nich ganz dicht. Aber der Hunger macht aus jedem’n Dichter oder’n Dummkopf. Und der hatte getanzt. Mitm Wildschwein. Drei Runden um’n alten Brunnen, der da gestanden hatte, obwohl keiner wusste, warum. Und bei jeder Runde hatte das Schwein lauter gegrunzt. Und der Mann leiser gelacht.“

Sie nahm einen Schluck aus ihrem Becher, und wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. „Dann hatte das Schwein ihn gerammt. So mit voller Wucht. Hatte ihn durch drei Bäume geschleudert, die da gestanden hatten, obwohl’s eigentlich ne Steppe war.“ sie nickte sehr bestrebt und bedeutete drei explosionsartige Gesten an. Dre Bäume. Mitten in der Steppe. Mensch! „Und der Mann? Der hatte da gelegn. Beide Unterarme wie’n Sack Muscheln. Blut überall. Und der Stock? Der war noch ganz. Weil er aus’m Holz geschnitzt war, von dem sich da obn inner Stadt echt einige was abschneidn solltn.“ Amüsiertes Raunen ging durch die Reihe. Ein Dockarbeiter murmelte: „Und dann warn die Geister da?“ Eda nickte langsam. „Aye. Die Tintenfischgeister. Ausm Nebel. Ausm Wasser. Ausm Teil der Welt, den man nur sieht, wenn man zwischn Lebn und Tod steht. Die warn groß. Mit Augn wie Spiegel. Und Tentakeln, die Dich hättn umhaun können.“ Eda lehnte sich vor, die Stimme war leiser geworden. „Aber sie ham ihn nich geheilt. Nee. Sie ham ihn leben lassen. Das is was anderes. Sie ham ihm’n neuen Namen gegeben. Und’n neuen Stock. Und dann ham sie das Wildschwein mitgenommen. Einfach so. Als wär’s ihr Haustier.“

Ein kurzes Schweigen hatte sich ausgebreitet. Dann lachte sie leise. "Seitdem nennt man ihn den, der mit’m Wildschwein tanzt. Nich weil er gewonnen hat. Sondern weil er nich verschwunden is. Weil er gefallen is. Und trotzdem gebliebn. Weil er noch lebt. Er hats echt überlebt. Und er stand schon wahrhaftig hier untn vor mir. Wilder Kerl." Sie stellte die Laterne wieder ab, griff nach ihrem Becher und nahm einen Schluck. „Und wenn ihr mal denkt, ihr seid allein… dann erinnert euch: Manchmal reicht’n Stock. Manchmal reicht’n Geist. Und manchmal reicht, dass jemand eure Geschichte erzählt.“ Die Dockarbeiter hatten genickt. Einer hatte sich über die Augen gewischt, als wär es doch nur Rauch aus dem ersterbenen Feuer gewesen. Und Eda? Die hatte sich zurückgelehnt. Die Laterne glimmte. Das Feuer hatte flackerte. Und draußen wartete die Nacht. Aber hier unten! Da war man nicht allein.

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Vom ‚Alten‘ und den Tücken des Meeres

Die Sonne stand hoch über dem Hafen, als Eda Bram ihre Fischbrötchen auf dem alten Holztisch ausbreitete. Der Duft von gebratenem Hering und Zwiebeln hing schwer in der Luft, vermischt mit Salz, Teer und dem leisen Grollen der Möwen. Es war Mittagszeit, und die Dockarbeiter hatten sich wie jeden Tag in kleinen Gruppen eingefunden. Sie waren hungrig. Müde und wortkarg. Zwischen den Brötchen, den Töpfen und dem zerknitterten Tuch lag ein Blatt Papier. Grob, beige, mit Kohle gezeichnet. Darauf: ein Wal. Riesig. Bucklig. Mit einem Auge, das größer war als alles, was man je gesehen hatte. Ein paar Muscheln klebten an seinem Rücken, als wären sie mit ihm gewachsen. Die Linien waren rau. Und das Auge, das Auge war wissend.

„Was’n das?“, fragte einer der Dockarbeiter, ein breitschultriger Mann mit öligen Händen. „Der da… sieht aus, als hätt er Geschichten zu erzählen.“
Eda hielt inne. Ihre Hände ruhten auf dem Brötchenmesser. Sie sah auf das Bild, dann auf die Männer. Einer hatte sich bereits gesetzt. Einer stand noch, aber sein Blick hing am Walauge. Ein Weiterer hatte das Brötchen längst vergessen, das er eben noch bestellt hatte.
„Aye…“, murmelte sie, und ihre Stimme war plötzlich nicht mehr die einer Verkäuferin. Sondern die der besten Geschichtenerzählerin am Hafen. Jene, die zu jeder Tageszeit bereit ist, weil sie immer etwas zu sagen hat. Für jeden, der fragt. Oder nicht fragt. „Der Alte.“
Sie setzte sich, schob die Brötchen beiseite, und legte die Hände in den Schoß. Die Männer rückten näher. Die Möwen verstummten. Und Eda grunzte amüsiert, ehe sie noch einmal zum Bild sah. Dann aber begann sie zu erzählen. Ein wenig anders. Ein bisschen ernster. Als müsse man ihre Abenteuer eben hinnehmen. Ernst nehmen.

„Wir sind halt mitter Morgnrufer ausgelaufn, die Tage… wo 'ch nich da war.“ ein wissendes Raunen ging durch die Menge. Eines, das sich erinnert. Denn ohne Eda ist auch die Mittagszeit nur schwer zu überbrücken. Keine Eda, keine Fischbrötchen. Zumindest keine Guten! „N altes Handelsschiff, aber mit mehr Herz als Holz, wenna versteht?! Die Besatzung? Über dreißig Seeln, und jede davon nen Kapitel für sich. Der Koch warn ehemaliger Pirat, der Steuermann blind auf nem Auge, aber mit nem Gespür für Strömungn, das fast schon unheimlich war. Und dann war da noch die kleine Luma, kaum zwölf, aber mit ner Stimme, die selbst die Möwen zum Schweigen brachte, wenn sie sang… 'ch sachs euch.“ Sie hob die Brauen etwas an, als würde sie sich selbst wundern, dass sie das alles wirklich erlebt hat. „Wir warn unterwegs Richtung Südwindklippen, wolltn da die seltnen Muscheln ladn, die dort nur bei Vollmond zu finden sind. Alles lief ruhig, fast zu ruhig. Bis… nja…bis der Wal kam.“ dabei breiteten die Arme sich aus, um einen wirklich riesigen riesenhaften Wal anzudeuten. RIESIG!

Sie nickte auch nochmal. Sicher ist sicher. Schob die Zeichnung ein bisschen fort und atmete tief ein. „Aye… eh… wo war 'ch denn stehn gebliebn?“ Ein kurzes Schweigen. Das Kratzen des Hinterkopfes. Dann ein Lächeln, das irgendwo zwischen Stolz und Ehrfurcht pendelte. „Eh… ja… also… Nich irgendein Wal, Jungs.“ grinste sie. „Der war… riesig. Ich mein, wirklich riesig.“ Und nochmal folgte dabei die Demonstration mit der Öffnung beider Arme. Und sie hat wirklich lange Arme. RIESIG! Die Männer starrten sie an. Einer hatte den Mund leicht geöffnet. Der andere hatte sich auf den Tisch gestützt. „Die Mannschaft hatn ‚den Altn‘ genannt. Manche sagn, er sei so groß wien ganzes Dorf. 'ch schwör euch, sein Auge allein war größer als unser Beiboot. Und er kam nich wütend oder wild. Er kam… neugierig. Is neben uns hergeschwommn, als wär’n wq sein Spielzeug. Drei Tage lang.“ Sie hob die Hände abermals als wolle sie die Größe zeigen, aber gab dann eben doch auf. „Nei… eigentlich viel zu groß, ums in echt zu zeign.“ Aber sie hatte die Augen weit aufgerissen und wollte unbedingt suggerieren, dass sie überhaupt nicht übertreibt.

Und so lehnte sie sich etwas vor, die Stimme leiser, fast verschwörerisch. „Wie… eh auch immer…Die Mannschaft hat gemeint, er hätt die Flaute mitgebracht. Dasser uns… festgesetzt hat. Drei Tage lang kein Wind, kein Wellnschlag, nur dieses… riesige Wesn nebn uns. Wie’n Schatten, der sich nicht so richtig bewegt… also… er… lag nebn uns. Einfach so. Manchmal… hab 'ch 's Gefühl gehabt, dass 'ch ihn weinen hör. Oder lachn. 'ch kann die Sprache der Wale nich gut. Könnt alles mögliche gewesn sein. Sicher isser einsam und… aye… 'ch wär gern seine Freundin gewesn. Konnts ihm nur halt nich sagn. Also habn Luma und 'ch ihm was vorgesungn. Tag und Nacht. Und… dann hatter nich mehr geweint…oder gelacht. Vielleicht…fand ers nich so gut.“ Sie schnaubte leise, amüsiert. „Und…'ch glaub das auch nich. Also… dasses die Schuld vom Altn war. Dasser uns festgesetzt hat. 'ch glaub, er hat uns gerettet. Er hat nur so…lang gebraucht, weil er nich wusste, obs die Mannschaft wert is.“ Ein Dockarbeiter murmelte: „Und? Wart ihr’s?“ Ein kurzes Zucken ihrer Schultern, dann fuhr sie fort, die Augen nun nicht mehr die Arbeiter gerichtet sondern auf den strahlenden Horizont, hinter dem das Meer in seiner Unendlichkeit liegt. „Wir warn auch echt zu weit draußen. Die Strömung hatte uns verschluckt, und der Steuermann… naja, sein Gespür war gut, aber nich unfehlbar. Wir hättn die Klippen nie erreicht. Nicht rechtzeitig. Nicht mit dem Mond so nah.“ Sie funkelte die Anwesenden friedvoll an.

„Nach dem ersten Tag… da war noch Hoffnung. Man hat Kartn studiert, den Himmel befragt, gehofft, dass der Wind sich nur kurz ausruht. Aber am zweiten Tag… da war die See … wie’n Spiegel, Kauz. Kein Kräuseln, kein Zuckn. Nur dieses endlose, schwarze Tuch, das sich unter uns ausgebreitet hat. Und wir mittendrin. Total verlorn. Kein Wind, kein Geräusch. Nur der Atem vom Alten, wenner auftauchte. Und das war… leise. So leise, dass man sich selbst beim Denken gehört hat.“ Sie schnaubte leise, als wolle sie sich selbst aus der Erinnerung schütteln. „Die Mannschaft hat’s nich gut vertragn. Der Käpt’n… der hat sich noch zusammengerissen. Hat Befehle gebrüllt, als gäb’s was zu tun. Aber 's gab nix zu tun. Die Segel hingen wie tote Vögel. Und die Männer… die warn wie Kinder, die sich im Dunkeln verlaufen haben.“ Ein kurzes Schweigen, dann ging es weiter, die Stimme nun fast flüsternd.

"Einer hat gemeint, wir sin verflucht. Dass der Alte uns beobachtet, weil wir was gestohln haben. Dabei… also… aye. Wir habn ja noch keine Muschln gefundn. Warn ja nich angekommen. Und nen andrer hat angefangen, mit dem Messer zu reden. Hat’s ‚seinen Schutzgeist‘ genannt. Wieder einer hat versucht, ins Wasser zu springen, um zu fliehn. Als wär da irgendwo Land, wenn man nur tief genug taucht." Sie schüttelte den Kopf erneut. Etwas langsamer. „Und dann war da Luma. Die hat sich einfach auf die Reling gesetzt, die Beine baumeln lassen und gesungen. Wie’n Licht inner Dunkelheit. 'ch glaub, der Alte is ihretwegen geblieben. Oder… hat ihretwegen nich gefressen.“ Ein kurzes, raues Lachen. „'ch? Ich hab so getan, als wär alles normal. Hab’n Tau geflickt, das keiner brauchte. Hab’n Logbuch geführt, das keiner liest, weils… eh nur voll mit Bildern war… Hab Luma beim Singen begleitet, wenn keiner hingesehen hat. Aber Angst? Nee… die hab ich nich zugegeben. Nich mal mir selbst.“ Sie sah wieder in die Richtung wo das Meer sich hinter der Sonne verliert.
„Drei Tage lang war das Schiff wie’n Grab, das noch atmet. Und der Alte… der war wie’n Wächter. Oder wie’n Richter. Hat uns geprüft. Hat gewartet, ob wir’s wert sind.“ Sie hob die linke Hand, als wollte sie einen unsichtbaren Kurs nachzeichnen. „Der Alte… der hat mit uns gespielt. Wie Pingpong, sag’ch. Is ma links, mal rechts aufgetaucht, hat das Wasser bewegt, ohne uns zu berührn. Immer so, dass wir weiterkamen. Ganz langsam. Ganz sicher.“ Ein tiefer Atemzug. Dann ein leises, fast kindliches: „'ch glaub, er hat uns gemocht. Und 'ch hoff auch, dass 'ch ihn irgendwann wieder seh.“

Ein kurzes Schweigen breitete sich aus. Dann knurrte ein Magen. Einer der Männer sah auf die Uhr. „Mist. Pause vorbei.“ Eda stand auf, griff nach den Fischbrötchen, die sie nicht verkauft hatte, und schob sie den Männern zu. „Nehmt se mit. Für unterwegs. Die Geschichte war lang genug. Und der Alte… der hätt euch bestimmt auch was abgegeben. Weilers wert seid.“ Die Männer nahmen die Brötchen. Einer nickte. Einer murmelte ein Dankeschön. Und einer sah noch einmal auf das Bild, bevor er ging. Und Eda? Die setzte sich wieder. Die Laterne flackerte. Das Bild lag still. Und draußen wartete das Meer. Voll mit all den Abenteuern, die sie noch zu erleben hatte.

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Wenn der Hafen erwacht.

Manchmal, wenn der Hafen schläft und die Stadt sich in ihre steinernen Träume zurückzieht, sitzt Eda ganz still auf dem kleinen, ledernen Thron vor ihrem Zelt. Wer sie beobachtet, der weiß, dass sie nicht zu regieren gedenkt. Sie lauscht. Dem Hafen, der von alten Schiffen erzählt, von verlorenen Träumen und Heimkehrern, die nie ganz angekommen sind. Sie lauscht dem Knarren der Planken, dem Schmatzen der Wellen, dem Flüstern der Seile, die sich im Wind bewegen. Sie lauscht Möhrfried, der zwar nicht spricht und doch alles sagt. Seinem Rhythmus, seinem Schnauben, dem leisen Trampeln, wenn er unruhig wird. Sie lauscht den Sternen, dem Raunen der Nacht, dem Licht, das fällt. Den Stimmen in ihrem Kopf, den Erinnerungen, die wie Möwen kreisen, nie ganz landen, aber auch nie ganz fort sind. Und sie lauscht dem Morgen, der sich ganz heimlich in die Nacht schleicht. Der den Himmel lila färbt.

Auch in dieser Nacht glitt der Wind durch die Wimpel wie durch alte Seiten, und irgendwo hinter dem schiefen Zaun, der alles war, nur kein fester Stall, schnaubte Herr Möhrfried. Eda spricht nicht viel in solchen Stunden. Aber sie denkt. An all jene, die immer dann auftauchen, wenn sie glaubt, allein zu sein. An den Jungen mit dem Schattenlächeln, der mehr sieht, als er sagt. An die stolze Besitzerin eines Glücksdietrichs, die zählt, was andere übersehen. Und an all die Namen, die noch kommen werden. Aber hier, jetzt, ist es nur sie. Und Möhrfried.

„Du merkst es, he?“ sprach sie am Ende leise zu ihrem Multimuli, weil ihr sowieso klar war, dass das Tier nicht schlief. Er grunzte. Zustimmung. Eda lächelte selig. „Die Stadt schickt ihre Schatt‘n runter. Immer öfter. Aber… hier… hier wird’s heller.“ Und als hätte selbst die Nacht beigepflichtet, stieg eine Möwe aus dem Dunkel auf, kreiste einmal über dem Lager und stieß ein einzelnes, helles Rufen aus. Ein bisschen wie ein freudiges Lachen. Weitere folgten. Nicht viele. Nur genug, um zu zeigen: Wir sind da.

Das Windrad summte. Die Laterne flackerte. Und über dem Lager lag ein Hauch von Lavendel und Gulasch, wie ein Zauber, der sagt: Du bist nicht mehr nur du. Denn etwas ist erwacht. Nicht plötzlich. Mehr wie ein Stern, der sich entscheidet, genau über dem Hafen zu leuchten. Die Möwenwacht ist kein Aufstand. Sie ist ein Flüstern. Ein Versprechen. Und Eda, mit ihrem verletzten Kopf, ihrem stolzen Herzen und ihrem schiefen Tresen, ist das Echo davon.

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