Mit Schraubenziehern, diversen Zangen, Hämmern und anderen Werkzeugen um sich herum verteilt saß das Gnomenmädchen unter einem löchrigen und zerlumpten, viel zu großen braunen Hut bei schönstem vormittäglichen Sonnenlicht im Staub der Westfaller Steppe. Das, was vor ihr lag, konnte man nur noch als riesigen Schrotthaufen bezeichnen, auch wenn hier und da etwas Stoff und sogar Stroh mit in den Bot eingeflossen war.
Ein sacht blau leuchtender Energiekern lag in einer kleinen Metallkiste neben Noée - das Herz des Erntehelfers. Zugegebenermaßen war es ein eher hinterwäldlerisches, schlichtes Herz, weit vom aktuellen Neu Tüftlerstädter Standard (vom mechagonischen ganz zu schweigen) entfernt, aber die Zelle war intakt, noch zu knapp zwei Dritteln aufgeladen und überspannungssicher, wie sich im Kampf der letzten Nacht erwiesen hatte. Somit eignete sie sich hervorragend für Noées Ladestation und war es wert gerettet zu werden - wie so viele andere Teile auch, die nicht verschmort, säurezerfressen, oxidiert, korrodiert oder sonst wie beschädigt waren, und somit ideale Ersatz- oder Basisteile für diverse Tüfteleien darstellten.
Wo sie all die kleinen und größeren Teile, die sie dem metallenen Golem entriss, unterbringen sollte, darüber zerbrach sie sich jetzt noch nicht den Kopf. Zur Not stopfte sie alles vorübergehend in ihren Wagen und kümmerte sich beizeiten um ein zusätzliches Gefährt samt Zugtier. Immerhin wünschte sie sich ja doch auch noch ein Eselchen wie Henry oder vielleicht ein Maultier, und was wäre ein besserer Grund für einen weiteren Weggefährten als ein neuer Wagen, den er ziehen durfte, um noch mehr wichtige Dinge dabei haben zu können?
Noée schraubte eines der scharfen Messer von der Hand des Ernters ab und betrachtete es gedankenverloren. Was für eine aufregende Nacht das gewesen war! Ein Angriff der Erntezwillinge, die sie fast ganz alleine mit ihrem mechagonischen Krabbler-Todesstrahl zur Strecke bringen durfte - und sie hatte extra gefragt, ob sie schießen durfte! Sie kicherte verlegen auf als ihr wieder einfiel wie der Alarm-o-Bot auf ihrem Wagen auf einmal losschrie und die finstere Nacht, in der sie zuvor ohne zusätzliche Beleuchtung nur die Schemen ihrer Karawanenfreunde sehen konnte und sie einzig anhand der Stimmen zuordnen musste, in sich rot im Kreis drehendes Licht tauchte. „ACHTUNG! ACHTUNG! +++ EINDRINGLINGE! +++ ALARM!“ hatte er eine gefühlte Ewigkeit warnend durchs Lager gekreischt während Steine von hinten auf die kämpfenden Gefährten niederhagelten. Und dann noch die Murloc-Schlachtruf-Hupe, die sie in dem Chaos aus Versehen gedrückt hatte …
Ob alle Tiere, die in all dem Schrecken, Chaos und Lärm in Panik ausgebrochen waren, wieder eingesammelt worden waren, wusste Noée nicht. Darum wollten sich andere kümmern, und mitten in der Nacht war sie die letzte, die sich noch einmal vom Lager entfernen wollte, Professor Riesen-Bernhardiner-bester-Freund-immer-an-ihrer-Seite hin oder her.
Kurz blickte sie zur Seite, um nach dem Hund zu sehen, der wie immer wie ein Gebirge scheinbar tief schlafend in ihrer Nähe lag. Nur eines der Schlappohren zuckte immer wieder einmal kurz nach oben und deutete an, dass er aufmerksamer war als es den Anschein hatte. Emelie war jedenfalls gleich nachdem Dunkelheit und Ruhe wieder Einzug gehalten hatten zum Wagen zurückgelaufen und neben der Eingangstür stehen geblieben wie ein Wachalpaka.
Aus dem Augenwinkel erspähte Noée kurz Sam, und sie musste daran denken, wie er im ersten Moment scheinbar Opfer des Überfalls gewesen war. Sie erinnerte sich an die unnatürlich verrenkten Gliedmaßen und den schiefen Kopf, der aussah als würde er jeden Moment vom Rumpf abfallen, sobald man den Körper bewegte. Doch wie war das möglich? Sam war ja wieder zu sich gekommen, mit dem Kopf an Ort und Stelle, und auch sonst nicht weiter verletzt, nur ein wenig benommen.
Aber sie hatte ihn doch gesehen! Oder … was hatte sie gesehen?
Schweißtropfen pressten sich aus ihren Poren und Kälte überzog die feuchte Haut als sie erneut an den Leichnam dachte.
Es waren Menschen gestorben in dieser Nacht. Die eigenen Gefährten hatten Menschen getötet.
Banditen waren es gewesen, ja, aber hätte man sich nicht anders zur Wehr setzen können als sie zu töten? Als sie zu Leichen zu machen? Oder war das nur ein Haufen Geröll gewesen, der dort auf der anderen Seite des Lagers zu sehen gewesen war? Oder nein … Schmutzwäsche! Irgendjemand hatte seine Schmutzwäsche auf den Boden geworfen, die sicher immer noch darauf wartete, im Zuber zu landen! Und das mit dem Kopf, das war passiert als sie den Erntehelfer mit dem Strahl des Krabblers getroffen hatte. Der war einfach abgeknickt, daran erinnerte sie sich genau!
Tief durchatmend legte sie die Klinge zur Seite und schraubte weitere „Finger“ des metallenen Ungetüms ab, um sie nebeneinander aufzureihen. Tote Menschen, nein, davon wollte sie nichts wissen. Aber sie mussten doch bestattet werden, oder? Nevex würde sich darum zu kümmern wissen wie bei den Kobolden auch. Die armen Kobolde. Sie mochte Kobolde, schätzte sie sogar seit ihrem Zusammentreffen auf der Suche nach dem Orcschuh. Immerhin hatten sie eine Art Kultur, die man Wesen wie Troggs und Gnollen nicht zugestehen würde. Sie hatten einen Glauben und sogar so etwas wie eine Religion. Davor hatte Noée Respekt und sah auch irgendwie ein, dass diese Völkchen aggressiv auf Fremde reagierten. Das täte sie bestimmt auch, wenn man sie für wertloses Gezücht hielt, das man zertreten durfte wie einen Käfer.
Ob sie Nevex helfen sollte, die Menschen auf ihrem Weg ins Licht zu begleiten? Hatten Banditen das heilige Licht verdient? Glaubten diese hier überhaupt ans Licht? Kobolde trugen es sogar in Form von Kerzen auf dem Kopf. Seit dem Erlebnis mit dem Schuh hatte sich Noée immer wieder gefragt, ob diese Kerzen nicht nur das Böse im Dunkel vertrieben sondern auch ein tatsächliches Symbol für das heilige Licht sein könnten. Sie sollte das bei Nevex einmal ansprechen. Vielleicht konnte man eine Studie anstreben. Das wiederum setzte allerdings voraus, dass die anderen die Kobolde in Ruhe ließen und ihnen freundlich begegneten. Ein Unterfangen, das ihr in diesem Moment reichlich schwierig vorkam. So viel Gewalt … mit Gefahren und Bedrohungen hatte sie gerechnet, aber so viel Tod und Blut und Beerdigungen …
„Verflucht!“ schimpfte sie und ließ ihr Werkzeug und das Messer fallen, an dem sie sich gerade geschnitten hatte. An ihrem Finger saugend wanderte ihr Blick missmutig umher und fiel unvermittelt auf das, was weiter weg unter einem großen Tuch lag, und von dem sie nichts wissen wollte. War das etwa eine schmutzige Hand, die sie dort ein kleines bisschen unter der Decke hervorlugen zu sehen vermutete? Rasch warf Noée gedanklich einen Haufen Schmutzwäsche darüber und wandte sich ab.
Der erste Erntehelfer war ausgeschlachtet. Nun erhob sie sich und ging zu dessen Zwilling, der nur wenige Meter weiter weg lag, hinüber, um ihm ihre weitere Aufmerksamkeit zu widmen. Als der Professor den Kopf anhob, um nachzusehen, ob sich Noée weiter wegbewegen würde, landete der zweite nicht minder schäbige Hut auf dessen riesigem Schädel. Kurz schüttelte er den Hut ab, bellte vorwurfsvoll und ließ den Kopf mit einem grummeligen Schnauben wieder auf die Vorderpfoten fallen als wäre das riesige Ding einfach viel zu schwer, um es ständig oben zu halten.
Zur Späherkuppe wollten sie als nächstes. Vielleicht schon heute. Wegen der toten Banditen. Um herauszufinden, ob sie jemand kannte und gar vermisste. Noée schluckte schwer an einer Träne, die sie um keinen Preis ihre Wange herunterrollen lassen wollte. Immerhin war ihr Gesicht voller Staub und auch ein bisschen ölverschmiert, und jeder würde das Rinnsal, das sich durch die Schmutzschicht auf ihrer Haut graben würde, sofort sehen können. Ein weiterer Blick weg von ihrer Arbeit führte hinauf zum Dach ihres Wagens, auf dem der kleine, fleißige Alarm-o-Bot im Sitzen schlief - gleich neben dem großen runden Waschzuber. Sobald Noée hier fertig und alles aufgeräumt war, brauchte sie ein Bad - ganz dringend und mit viel duftendem weißen Schaum.