Die Reise der Lilien

Terizza sitzt auf einem Stapel von Kisten und Koffern nahe dem Ausgang der Gildenhalle und seufzt. „Warum hat es nur soweit kommen müssen?“
*Sie zieht zum gefühlten unendlichsten Mal den kleinen Kompass heraus und hält ihn vor ihre Nase. Die seltsam schimmernde Nadel tanzt wie verrückt. Und als sie zur Ruhe kommt zeigt sie wie all die Male davor auf den bläulich schimmernden Torbogen, über welcher der Schriftzug „Hydraxian Waterlords“ in der Luft flimmert.
„Das Wassertor. Gibt es wirklich keinen anderen Weg?“, murmelt sie vor sich hin und lässt sich schwerfällig von dem Gepäckhaufen gleiten.
„Immer noch unsicher, Chefin?“ Zholac rollt ein riesiges Fass Bier aus ihrem Zimmer in die Halle. Als sie Terizzas verwunderten Blick bemerkt grinst sie. „Ein Zwerg, der ohne Bier auf die Reise geht, ist kein Zwerg.“
„Wie… wie hatte das nur Platz in deinem Zimmer?“, rutscht es Terizza heraus.
„Zwergengeheimnis“, kommt es gleichzeitig aus mehreren Kehlen. Hinter Zholak tauchen Selidar, Aidana und Simorthas auf. Letzterer muss sich ducken, damit er mit seinen spitzen Ohren nicht am Türrahmen streift. Auch sie tragen Fässer. Allerdings kleine, handliche.
„Und euer anderes Gepäck?“, fragt Terizza. „Eure Bücher, Waffen, und so weiter?“
Aidanas Tiger kommt aus dem Zimmer geschlichen, einen Bogen und einen Köcher im Maul.
„Um den Rest haben wir uns schon gekümmert.“ Xaver und Liv tauchen aus den Schatten auf und Liv überreicht Terizza eine Geschäftskarte. „X&L Umzugsservice durch alle Realitäten“ steht darauf zu lesen.
Und plötzlich sind da auch Thora, Duresa, Nimuette, Tallac, Seccotine, Acora, , Phosphorosa, Blinka, Cordelia, Inzumy, Seriana, Jingsilix und alle anderen. Eine Schar erschöpfer Lilien, Wassertropfen glitzern auf ihren Haaren.
„Das war ein hartes Stück Arbeit“, schnauft Tallac. „Doch wir haben es geschafft. Die neue Halle ist in der Blauen Dimension verankert. Die Reise sollte für alle sicher sein.“
Terizza spürt, wie ihr die Tränen kommen. Diese Treue und diese Aufopferung. „Danke“, flüstert sie und wischt sich über die Augen. „Wollen wir aufbrechen?“ Ihre Blicke gleiten von einem zur anderen.
Jeder und Jede nickt schweigend. Große und kleine Hände packen die Koffer, schultern die Kisten und zerren die schweren Beutel in Richtung des blauen Torbogens. Terizzas Blicke gleiten über die verschlossenen Türen, die schon länger nicht mehr geöffnet worden sind. Dolkin, Lichtsucher, Anneliese … Der Hinweis wohin die Reise geht, steht schon in großen Lettern auf der Anschlagtafel der Halle.
„Keine Angst, Tantchen“, Aine sitzt gelassen auf dem Tisch und kaut ihr Silberblatt. „Falls einer von denen die Nase in die Halle steckt, werde ich ihm die Richtung zeigen.“ Die freche kleine Diebin hat beschlossen, den Untergang der Dimension mitzuerleben und dorthin zu gehen, wohin der Zufall die letzten Aufrechten schicken wird. In den Händen hält sie den Ring mit den Schlüssel zum Gildentresor. Es ist nichts mehr drin, aber so viel Platz ihren Plunder unterzubringen hatte sie noch nie.
Terizza geht auf sie zu und nimmt die goldene Lilienschärpe des Gildenchefs ab. Ein energischer Ruck und sie ist längs entzwei gerissen. Zwei schmale Hälften. Terizza wirft Aine die eine Hälfte hinüber. „Danke, dass du die Stellung hältst.“
„Alles gut“, winkt Aine ab. „Jetzt macht schon, oder die feiern da drüben eure Ankunft ohne euch.“
Terizza zwingt ein Lächeln auf ihre Lippen. Noch einmal sieht sie sich um. Der Name „Konstantino“ prangt noch immer auf einer Tür. Darunter ein goldener kleiner Drache. Sie spürt den Stich der Trauer, die beiden verloren zu haben. Wenn es doch nur einen Weg gegeben hätte…
Dann strafft sie die Schultern und trippelt voran, einen dicken Sack Goldmünzen im Schlepptau. Mit einem letzten Lächeln über die Schulter in Richtung Aine tritt sie durch den Vorhang aus blauem Licht. Eine Lilie nach der anderen folgt ihr, bis schließlich der letzte vom Portal verschluckt wird.
Mit einem Mal ist es still in den Hallen. Aine springt vom Tisch und spaziert von einer offenen Tür zur nächsten, um sie alle abzuschließen. Die Schlüssel hängt sie an das lange Brett, wo noch immer die Namen der Lilien stehen. Ein Anflug von Melancholie huscht über ihr Gesicht, doch er ist so schnell verschwunden wie er kam. Dann spaziert sie auf das grüne Portal zu, wo „Celebras“ darüber steht und prüft noch einmal ihre Giftvorräte und die Schärfe ihrer Klingen. Die Dimension mag kollabieren, doch die Wesen, die Teil davon sind, wissen noch nichts. Das heißt, sie haben ihre Schätze noch nicht in Sicherheit gebracht…

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