Was ist Heimat?
Shaine wusste, dass die Antworten auf diese Frage ganz unterschiedlich ausfallen konnten.
Für manche war ihre Familie ihr Zuhause, für andere der Ort, von dem sie stammten. Und für andere wiederum war ihr Zuhause der Ort, an dem sie glücklich waren. Aber alle hatten eines gemeinsam: Es war ein Ort, an den man gerne zurückkehrte. Eine Konstante in ihrer Existenz.
Auch Shaine hatte einst eine solche Konstante gehabt. Für ihn war Acherus dieser Ort, auch, wenn er ihn nicht Heimat nannte. Weder hatte er dort Familie, noch stammte er von dort und schon gar nicht war er dort glücklich gewesen. Was war also sein Zuhause?
Es gab einmal eine Zeit, da hätte er diese Frage ohne zu zögern beantworten können, doch jetzt war er sich nicht mehr sicher. Tarrens Mühle war für ihn zu so etwas wie einem Zuhause geworden, jedoch mehr aus einem Pflichtgefühl und nicht, weil er sich wirklich gerne dort aufhielt.
Vermutlich reise ich deswegen quer über diese verdammten Inseln.
Weil er ständig auf der Suche war. Auf der Suche nach etwas, von dem er bis vor kurzem noch nicht einmal wusste, dass es ihm überhaupt fehlte.
Der Schnee knirschte unter seinen schweren Stiefeln und ließ in ihm die Erinnerung an lang vergessene Tage aufkommen. Dieser Ort hier, der sich azurblaues Gebirge nannte, erinnerte ihn an die eisigen Weiten Nordends. Die Ähnlichkeiten waren ehrlich gesagt sogar fast schon erschreckend. Aber das machte nichts – im Gegenteil. In Nordend hatte er am ehesten immer etwas wie ein Zugehörigkeitsgefühl verspürt, was sicherlich auch an seiner Existenz als Todesritter lag. Irgendwie waren sie alle mit diesem Ort verbunden, ob sie wollten oder nicht.
Shaine gab ein Knurren von sich, als ihm dieser Gedanke kam. Das, was er war, trug mit Sicherheit ebenfalls dazu bei, ihm eine Heimat zu erschweren. Obwohl der König gefallen und die Krone zerstört war, begegnete man ihnen nach wie vor noch mit Misstrauen und es verwunderte ihn nicht, dass nach wie vor viele Ritter der schwarzen Klinge angehörten. Wo sollten sie sonst hin? Er selbst hatte sich von ihr abgewandt und streifte seitdem alleine umher, immer auf der Suche nach etwas, dass er nicht einmal genau benennen konnte. Ein zurück gab es für Shaine nicht mehr. Dafür hatte er bereits zu viele Dinge gesehen und erlebt. Seine Zeit bei der Apothekervereinigung hatte ihn zu sehr geprägt und auch die Zeit danach hatte den Verlassenen verändert.
Zwar wünschte sich Shaine mehr Akzeptanz, allerdings bereute er nicht, was er war. Das hatte er nie. Doch diese Gedanken blieben nur in seinem Kopf. Er wusste, würde er sie aussprechen, würden sie nur auf Wut und Unverständnis treffen. Ihm mochten zwar die Fähigkeit fehlen, sich wie ein normaler Lebender zu verhalten, doch konnte er meist gut einschätzen, was sie hören wollten und was nicht.
Während der Schnee beständig unter seinen Schritten knirschte, gab sich der Todesritter weiter seinen Gedanken hin, die er auf nichts bestimmtes richtete.
“Ich weiß noch nicht einmal, warum ich überhaupt hier her gekommen bin“, knurrte er. Doch das war nur eine weitere Frage von vielen, auf deren Antworten er weiterhin auf der Suche war.