Das Bild, das sich vielfach in den Scherben des kleinen Handspiegels zeigt, ist grotesk. Strähniges und verfilztes Haar, einstmals braun, jetzt vor Schmutz und Moder schwarz geworden. Leere Augenhöhlen, umgeben von loser, verwester Haut. Die Nase ist praktisch verschwunden, nur zwei Löcher mitten im Gesicht sind noch übrig geblieben, und da, wo ein menschlicher Kiefer sitzen sollte…
Abstoßend.
Blindstich starrt ihr Spiegelbild seit Stunden an. Sie hat natürlich immer gewusst wie sie aussieht. Der Untod macht nicht schön. Der Untod duftet nicht nach Rosen und Parfüms, ist nicht elegant oder mysteriös. Das alles ist nichts neues für sie.
Trotzdem hat sie bisher immer vermieden ihr Spiegelbild zu betrachten. Vergleiche zu ziehen.
Seit sie der Man’ari im Teufelswald diesen Spiegel abgenommen hat kann sie nicht anders. Die schwammigen Erinnerungen an ihr Äußeres vor dem Tod legen sich wie eine Folie über ihre jetzige Erscheinung. Grüne Augen statt modriger Löcher. Oder waren sie blau? Braun?
Sie weiss es nicht mehr genau.
Was sie aber weiss, ist dass sie eine kleine Stupsnase hatte. Und dass sie jung war, als sie starb.
Die behandschuhten Finger drehen den Spiegel sacht hin und her, verändern den Blickwinkel minimal. Bevor sie sich aber wieder vollends in die Betrachtung ihrer selbst vertiefen kann erweckt eine Bewegung tief unter ihr ihre Aufmerksamkeit.
Der Spiegel wird zur Seite gelegt als sie sich vorbeugt, in die Tiefe der Kluft starrt.
Dort unten ist der Meister, der sich mit Glynaith unterhält. Blindstich mag die Sayaad, und sie mag den Meister. Er hat ihr einen Zweck gegeben. Eine Bestimmung. Und Glynaith ist immer freundlich, obwohl sie ein Dämon ist.
Die Entfernung ist zu groß, als dass sie irgendetwas hören könnte, und selbst wenn sie näher wären könnte Blindstich die beiden nicht verstehen. Sie weiss das. Der Meister gibt seinen Dämonen Anweisungen auf Eridun. Erdun? Erudin? Die Dämonensprache eben.Also sieht sie nur zu, wie Glynaith sich nach Erhalt ihrer Befehle in einen Unsichtbarkeitszauber hüllt und verschwindet. Puff. Einfach so. Vergeblich versucht die Pirscherin irgendein Anzeichen der davonstapfenden Sayaad auszumachen. Aufgewirbelten Staub oder flackernde Kohlenpfannen, wo sie vorbeigeht.
Nichts. Frustrierend.
Ihr Blick sucht wieder den Meister, der noch immer an derselben Stelle steht und irgendwohin starrt. Sich nicht bewegt. Von oben kann sie seine Mimik nicht ausmachen, aber sie glaubt zu wissen wie er gerade dreinschaut. Ein bisschen angesäuert, weitestgehend aber neutral. So schaut er immer. Meißtens.
Sie winkt. Unmöglich, dass er sie sieht, würde man meinen. Er schaut ja gar nicht zu ihr hoch. Aber da bewegt er sich doch, hebt flüchtig die Hand, als würde er den Gruß so knapp wie es nur geht erwidern. Dann dreht er sich um und schlendert in das Zelt mit den vielen Büchern.
Blindstich starrt ihm hinterher und empfindet so etwas wie einen Funken Wärme in ihrem Inneren. Das Echo von Wärme. Die lang vergrabene Erinnerung.
Sie hat einen Zweck. Und der Zweck ist gut.
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