„Ich erbitte Eure Verzeihung, Lady des Herzens der Raben, aber was meint Ihr mit ‘Ihr seid entlassen’?"
Gefasst und gut gekleidet wie eh und je stand er vor ihr. Astartus Satori, der "Maestro". Sollte ihn die jüngste Offenbarung überrascht oder anderweitig getroffen haben, merkte man es ihm nicht an. Wie man ihm eigentlich nie etwas anmerkte.
„Ihr wart auf Eure weltfremde Art stets der Klügste von uns allen. Ich bezweifle dass ich Euch einen so simplen Satz ernsthaft erklären muss."
Ganz im Gegensatz zu ihrem Gegenüber war Lothessa Rabenherz nicht im geringsten in der Lage zu verbergen,wie sehr ihr diese Situation widerstrebte. Wie nah sie ihr ging. Dass sie jede Sekunde davon hasste.
"Oh, die Worte kenne ich durchaus. Einschließlich ihrer sämtlichen Synonyme und den legitimen Possibilitäten, sie zu sinnvollen Phrasen zusammenzusetzen. Meine Frage zielte eher auf eine Begründung ab. Habe ich mich fehl verhalten?"
Lothessa hatte sich dieses Gespräch hier bis zum Schluss aufgehoben. Nicht dass noch viele nötig gewesen wären.
Die meisten hatte man ihr bereits aus der Hand genommen. Ohne dass sie darum gebeten hatte. Oder es gewünscht.
Vor ein paar Tagen:
Stapelweise Pergamente trachteten erfolglos danach, den massiven Schreibtisch im Arbeitszimmer von Rufus Rabenherz wenigstens ein kleines bisschen durchzubiegen. Mit einer mörderischen Ruhe und einem langstieligen Glas Wein in der Linken sah er von dort aus seinem heutigen Gast beim Eintreten zu. Der eigenen Tochter.
"Der Eine mit den Würdigen, Lothessa. Du bist meiner Einladung gefolgt. Wie schön."
"Der Eine mit den Würdigen, Vater. Wie hätte ich denn ablehnen können." entgegnete sie zähneknirschend.
Tatsächlich hätte sie nicht. Die beiden liebsten Berufsschläger des Gastgebers hatten auf ihre unverwechselbar nicht-subtile Weise klargestellt, dass es genau zwei Optionen gab: Freiwillig in die Kutsche steigen, oder unfreiwillig in die Kutsche befördert werden - eventuell mit ein paar gebrochenen Knochen.
Natürlich hätte sie sich gegen Option Zwei zur Wehr setzen können. Vielleicht sogar erfolgreich. Aber die Konsequenzen hätten den vermeintlichen Gewinn nicht aufgewogen.
Ein kurzes Nippen an seinem Wein – dann stellte Rufus das Glas beiseite und klatschte unternehmerisch in die Hände.
„Ich möchte gleich zur Sache kommen, wenn du erlaubst: Du hast versagt.“
Drei Worte, die immer noch die Wirkung einer Ohrfeige hatten. Daran hatte sich seit Lothessas Kindheit nichts verändert. Dementsprechend starr und getroffen stand sie da. Ohne eine Antwort oder einen Laut von sich zu geben.
„Ich gab dir diverse Male auf liebenswürdigste Art detaillierte Instruktionen wie mein Haus zu führen sei. Du hast sie nicht bloß ignoriert, nein! Das wäre für Lady Lothessa Efgenya Rabenherz unangemessen.“
Der blanke Hohn sprach aus seiner Betonung ihres Namens, während er sich ein paar Briefe von einem der Pergamentstapel griff.
„Statt dessen hast du in meinem Namen eigene Anweisungen und Zusagen gefälscht, immer so, wie du sie grade gebraucht hast. Du hast mich, meinen Namen und dieses Haus über Jahre hinweg belogen, betrogen und benutzt!“
Jener Vorwurf weckte nun doch ihren Trotz, so dass sie die unbewegte Haltung ein wenig aufweichte um zu entgegnen:
„Werte, die DU mir vermittelt hast, Vater. Bist du stolz auf mich?“
Eine flache Hand, die donnernd auf den Schreibtisch niederging, bedeutete wohl Nein.
„Du hast meine Zeit und mein Geld verschwendet, meine Geduld mit deinen Eskapaden auf eine harte Probe gestellt. Also ist es nur recht und billig, wenn ich mir zurücknehme und korrigiere soviel ich kann.“
Bei diesen Worten blätterte Rufus durch weitere Pergamente. Hin und wieder legte er eines vor sich aus. Lothessa begab sich wieder in ihre stoische Pose. Straff wie ein Soldat lauschte sie den unvermeidlichen Ausführungen in der Hoffnung, wenigstens nichts schlimmer zu machen.
„Dein Privatvermögen habe ich einfrieren lassen. Institoris verwaltet es künftig. Du wirst jede Ausgabe mit ihm durchsprechen, jede Einnahme an ihn abtreten.“
Keine Reaktion.
„Dein ‚Haus‘, das heißt, die kläglichen Reste davon, werden aus ihren Diensten und ihrem lächerlichen Schwur entlassen. Nicht dass es einen Unterschied machen würde. Du bist unlängst allein.“
Ein hartes Schlucken, immerhin. Und dann brach doch etwas aus ihr heraus. Ihr Mantra der letzten Monate:
„Raben wollen flie…“
„Wage es nicht diesen Satz zu beenden! Niemand ist ‚geflogen‘, Lothessa! Man hat dich im Stich gelassen. Nicht mehr und nicht weniger.“
Gut. Dieser Hinweis war eine Träne wert. Sie hoffte nur dass ihr Vater sie nicht sah.
„Deine interessant ausgeführte Adoption eines Straßenköters in die Familie habe ich immer bloß als schlechten Scherz betrachtet. Trotzdem sage ich lieber dazu: Sie ist natürlich rundheraus ungültig. In Anbetracht der möglichen Konsequenzen möchtest du gewiss auch dieser Meinung sein.“
Die Träne bekam Gesellschaft. Er wusste davon? Natürlich wusste er davon. Ganz automatisch nickte sie ein- zweimal krampfhaft, bevor sie wieder alle Energie brauchte um Haltung zu bewahren.
„Du hast es gleich überstanden.“ höhnte Rufus mit falscher väterlicher Anteilnahme. Und erntete dafür ein weiteres Nicken. Er nahm eines der bereitgelegten Dokumente zwischen beide Daumen und Zeigefinger.
„Deine fruchtlose Ehe mit dem Söldner…“
Diesmal gab es keine Chance auf Zurückhaltung mehr. Lothessa preschte mit ausgestrecktem Arm und einem schrillen Aufschrei vor und wollte nach dem Papier greifen. Doch schon auf halbem Wege hörte sie jenes charakteristische Reißen – und dieses Geräusch schien in dieser Sekunde ALLES zu übertönen.
„… ist hiermit annulliert!“ beendete Rufus seinen Satz und ließ die beiden Hälften der Hochzeitsurkunde achtlos zu Boden segeln. Lothessa blickte ihnen nach, aufgestützt auf den Tisch und zusammenhanglos stammelnd.
Rufus gab ihr, absichtlich oder nicht, ein wenig Zeit, indem er betont langsam nach seinem Weinglas griff und daran nippte.
„Ich bin bereit, es dich noch einmal versuchen zu lassen. Sofern du willst. Haus Rabenherz Redux, sozusagen. Aber erinnere dich dabei immer an den heutigen Tag. Alles was du tust, alles was du aufbaust – wenn es mir nicht zusagt, nehme ich es dir einfach wieder weg. Und jetzt geh mir aus den Augen.“
Taumelnd wandte Lothessa sich um und der Tür zu. Ihr Körper war schwer zu navigieren, fühlte sich taub an. Auf halbem Wege blickte sie noch einmal über die Schulter, aber ihre Frage, ihre Gedanken, konnte sie lediglich in einem Wort ausdrücken.
„Llewellyen?“
„Ah. Natürlich. Das hätte ich jetzt glatt vergessen. Du wünschst dir doch bereits dein Leben lang nichts sehnlicher, als ein Einzelkind zu sein, nicht wahr? Nun, alles Gute zum Geburtstag, Tochter.“
An dieser Stelle umfing Lothessa eine gnädige Ohnmacht.
Zurück in der Gegenwart:
„Nein, Herr Satori. Nein. Ich glaube … Ihr seid so ziemlich der Letzte, dem ich irgendein … Fehlverhalten vorwerfen könnte. Und jetzt geht mir aus den Augen.“