Mahu saß wieder einmal an ihrem Lieblingsplatz - diesmal nicht um zu schreiben, sondern um einen Entwurf für das Wams ihrer Gemeinschaft zu erstellen.
Dafür hatte sie sich Pergament und verschiedene Farben besorgt.
Farben waren wertvoll - und nur die besten Alchemisten verstanden es, sie herzustellen.
Zum Glück gehörte sie dem Stamm der Winterhoof an, der viele große Alchemisten hervorgebracht hatte.
Sie selbst war zwar noch nicht in die Künste der Alchemie eingeweiht, aber als Kräutersammlerin ihres Stammes wusste sie schon viel über die verschiedenen Zutaten, aus denen nicht nur Tränke mit heilender und stärkender Wirkung, sondern eben auch Farben hergestellt wurden.
In letzter Zeit hatte sie ihre Pflichten als Kräutersammlerin allerdings oft sträflich vernachlässigt - zu sehr war sie mit Dingen, die die Gemeinschaft betrafen, beschäftigt gewesen.
Die Gemeinschaft - sie hatte sich gut entwickelt, und Mahu konnte den Segen der Erdenmutter und der Ahnengeister spüren, der über ihr lag.
Dafür empfand sie tiefe Dankbarkeit.
Einige Mitglieder der Gemeinschaft waren ihrem Aufruf gefolgt und hatten eigene Entwürfe für das Wams eingereicht, die sie nun nacheinander mit aufmerksamem Blick studierte.
Man konnte sehen, dass sich jeder auf seine Weise Gedanken gemacht hatte, die in vielerlei Hinsicht ihren eigenen ähnelten - und selbst wenn der fertige Entwurf sicherlich anders aussehen würde als die eingereichten Vorschläge, würde doch letztlich ein Stück von allen darin enthalten sein.
Wie sollte das Wams aussehen?
Natürlich sollte er gut aussehen - aber Schönheit allein reichte nicht.
Schon immer war sie fasziniert gewesen von Dingen, die auf den ersten Blick dem Auge gefielen - und auf den zweiten Blick eine verborgene, tiefere Bedeutung offenbarten.
Genauso sollte das Wams der Gemeinschaft sein: Schön, aber auch bedeutungsvoll.
Wilde Gedanken, Bilder und Farben schwirrten durch ihren Kopf, der immer schwerer und schwerer zu werden schien.
Mit einem Mal verspürte sie eine große Müdigkeit - die letzten Tage waren anstrengend gewesen.
Es wäre ihr sonst nie eingefallen, sich am hellichten Tag mitten in Thunder Bluff einfach ins Gras zu legen, so wie es die jungen, unbedarften Shu’halo mitunter zu tun pflegten, aber genau das tat sie nun.
Es war als ob sich eine schwere, warme, gütige Hand auf sie legte.
So lag sie da und blickte hinauf in den Himmel.
Sie sah die Wolken majestätisch dahingleiten, während An’she, das Auge der Erdenmutter, ihr gütig und warm ins Gesicht schien.
Sie schloss die Augen - und war bald darauf eingeschlafen.
~
Sie schwebte.
Unter ihr - gleichzeitig fern und doch merkwürdig nah - eine vertraut wirkende Landschaft.
Braune Erde und Gräser, unterbrochen durch vereinzelte grüne Farbtupfer und rötlich schimmernde Berge.
Dazwischen zahllose wilde Tiere - Ebenenschreiter, Zhevras, Gazellen.
Das Brachland.
Es war wundervoll, so dahinzuschweben - mühelos, schwerelos, körperlos - und dabei alles überblicken zu können.
In der Ferne konnte sie - wie ein Hoffnungsstreif am Horizont - das fruchtbare grüne Grasland von Mulgore ausmachen.
Und über allem thronte und strahlte An’she, das gütige Auge der Erdenmutter, das alles Leben nährte und wärmte…
~
Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte - möglicherweise nur einige Augenblicke, aber dennoch fühlte sie sich erfrischt und klar.
Sie setzte sich auf.
Dieser Traum… diese Vision - es musste ein Zeichen gewesen sein!
Sie nahm ein leeres Pergament zur Hand.
Der Wind - Atem, Leben.
Als Kind hatte sie den Wind in Form von Wolken mit dicken Backen gemalt, die heftige Windwirbel auspusteten.
Nun, ein derartiger Entwurf würde bei den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft nur ungläubiges Gelächter hervorrufen.
Also stattdessen vielleicht… eine Windrose?
Eine stilisierte Windrose, deren vier Enden in kreisenden Windwirbeln ausliefen.
Vier Himmelsrichtungen - vier Völker der Horde.
Auch die verschiedenen Völker der Horde verästelten sich immer feiner in Clans, Stämme und Individuen.
Und letztlich lief alles wieder in der Mitte, im Zentrum zusammen.
Die Gemeinschaft - die goldene Mitte.
Ja, gold wäre die passende Farbe dieses Symbols - wertvoll wie das edelste Metall und die Farbe von An’she.
Die Steppe - Körper, Nahrung.
Das restliche Wams müsste braun sein wie das Brachland, das ihnen allen Nahrung schenkte und das alle Hordevölker miteinander verband.
Die Hoffnung - Spiritualität, Geist.
Gesäumt würde das Wams schließlich von einem satten Grün - der Farbe der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, in der alle Völker ihren Platz in der Welt fanden - und Frieden.
Wie jeder Shu’halo wusste, waren braun und grün zudem die Farben der Erdenmutter.
Ja, jetzt ergab alles einen Sinn.
Sie nickte zufrieden - und wieder überkam sie ein Gefühl tiefer Dankbarkeit.
Zügig packte sie ihre Sachen zusammen und eilte mit dem fertigen Entwurf zum Zelt ihres Großvaters, Ghom Winterhoof.
Schon immer hatte sie eine besondere Beziehung zu ihm gehabt.
Nie hatte es zwischen ihnen vieler Worte bedurft und oft hatte ein Blick genügt, um zu wissen, wie der andere dachte.
Nun war ihr wichtig zu erfahren, wie er über ihren Entwurf dachte.
Sie betrat das Zelt.
Ihr Großvater - trotz seines Alters immer noch von mächtiger Statur - saß aufgerichtet auf seinem mit Fellen ausgekleidetem Stuhl.
Aufgrund eines Augenleidens verließ er das Halbdunkel des Zeltes nur noch selten.
Aber das nachlassende Augenlicht hatte sein Gehör geschärft - und so erkannte er Mahu sogleich an ihren Schritten.
Während sie sich ihm näherte, hob er seinen Kopf und blickte ihr freundlich entgegen.
Als sie vor ihm stand, grüßte sie ihn auf Taurahe:
Ish-ne-alo por-ah (Mögen die kommenden Tage von den Ahnen geleitet werden).
Theia-shoush erwiderte er mit seiner sanften, tiefen Stimme.
Sie überreichte ihm wortlos das Pergament mit ihrem Entwurf.
Bedächtig nahm er es mit seiner mächtigen Hand entgegen und hielt es sich dicht vor die Augen.
Während ihr Großvater das Pergament studierte, kniete Mahu neben seinem Stuhl.
Sie fühlte sich mit einem Mal wieder wie das kleine Mädchen, das früher gebannt dem Großvater gelauscht hatte, wenn er ihr die Legenden der Shu’halo erzählt hatte.
Ihr Großvater nahm sich viel Zeit, den Entwurf genau zu begutachten.
Schließlich ließ er die Hand mit dem Pergament sinken und legte seine freie Hand auf ihre Stirn.
Sie war warm und trotz der Schwielen voller Güte.
Es bedurfte keiner Worte.
Es war gut, sie hatte seinen Segen.
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