[Kurzgeschichten][Gilneas] Die Tränen meiner Heimat

Gelt und andere Gefahren TEIL II

Durch die Wellen offenbart sich eine weitere Flaschenpost, die irgendwo an einem sonnigen Plätzchen der Welt angespült wird.

Hat man sich erst in den Bau eines Bären begeben, ist man dazu gezwungen eine Entscheidung zu treffen. Man kann tiefer hinein oder man rennt um sein Leben, aber an jenem Tag entschlossen wir uns, tiefer in die Dunkelheit zu schreiten. Unsere Hauptstadt war nicht nur Teil unserer Heimat, sie war unsere Heimat und wir haben sie mehr als einmal im Angesicht des Todes verteidigt. Nun aber war der leibhaftige Tod gekommen und beanspruchte sie für sich selbst. Dieser Frevel weckte eine Bestie, selbst bei den Unverfluchten, in unseren Herzen.

Nethalia war außer sich, wie ein heraufziehender Sturm, und stapfte wild durch den nassen Schlamm. Als ehemalige Stadtwache lief ihr vermutlich die Galle zusammen, als sie die untoten Wachposten vor Gilneas-Stadt entdeckte. In ihrer Worgengestalt presste sie nun ihre Fangzähne aufeinander, sodass ich befürchtete, sie würden jeden Augenblick in tausend Teile brechen und ihr Nackenfell stellte sich unangenehm auf. „Wir sollten zurückkehren und uns einen neuen Plan überlegen.“, schlug Ahndor bedacht, aber angesichts Nethalias Zorn zeitlich unpassend, vor. Sie blaffte ihn wütend an: „Du willst doch nicht etwa diesem elenden Gerippe ausweichen, du Sohn eines räudigen Köters.“, und fixierte ihren wuterfüllten Blick auf ihn. „Du kannst vergessen, dass ich diese Stadt ohne weitere Aufklärung betrete. Das ist purer Wahnsinn.“, erklärte er weiter mit der Erfahrung eines Mannes, der in der Armee gedient hatte. Ahndor entgegnete ihr ein kühles Heben seiner rechten Augenbraue, was ihre jähzornige Natur noch weiter anstachelte. „Leck mich, Ahndor. Verdammt sollst du sein, wenn du deinen verletzbaren Hintern lieber wieder nach Sturmsiel tragen willst. Wir haben uns geschworen, dass wir uns niemals aus unserer Hauptstadt vertreiben lassen würden, aber du ziehst lieber den Schwanz ein?“, schrie sie ihn mit einer grollgeschwängerten Bestimmtheit an. „Immer mit der Ruhe, die Herrschaften.“, erhob Gelt sachlich die Stimme und fuhr fort. „Unser Feind befindet sich in der Stadt und nicht hier.“ Ich konnte ihm nur zustimmen, aber die Lage war wirklich kompliziert. Wie es aussah, konnten wir nicht einfach einen gemütlichen Spaziergang durch die Viertel unseres Gilneas unternehmen, sondern mussten uns im Schutz der hereinbrechenden Nacht durch die Winkel und Gassen fortbewegen. Allerdings hat Ahndor einen wunden Punkt getroffen, denn wir hatten tatsächlich keine Ahnung, was auf uns warten könne, schließlich wussten wir nicht einmal vom Fall der Hauptstadt. Die Leichen auf dem Weg hätten uns eine deutlichere Warnung sein sollen.

„Es wird bald sehr dunkel sein“, stellte Nethalia fest. „Was ist, wenn ich über die Dächer der Stadt hechte und uns einen sicheren Weg finde?“, schlug sie vor, bemüht ihren Zorn in Ehrgeiz zu wandeln. Ich entgegnete ihr, dass sie nicht allein gehen könne. „Dann komm mit, Abberworth. Du bist doch auch ein Worgen.“, verpflichtete sie mich. Verdammt. Ich konnte nur seufzen und mit der Schulter zucken. Ich war kein besonders guter Kämpfer und ein Späher schon gar nicht, aber als Worgen besitzt man die unheilige Beweglichkeit und Kraft eines Biests, weswegen sich sogar meine Chancen im Kampf drastisch erhöhten. Ich willigte schließlich ein, aber bestand darauf, dass wir zunächst den Kanal um die Hauptstadt herum nach untoten Aktivitäten untersuchen sollten.

Gilneas lag strategisch auf einer Insel in der Mitte des Landes. Im Laufe der Zeit baute unser Volk die Stadt zu einer befestigten Wehrstadt aus, die nicht nur durch die Kräfte seiner Bewohner verteidigt wurde, sondern auch durch den natürlichen Wasserkanal, der sie umgab. Kreisförmig angelegt und ohne diese veralteten Burgen, die die Lordaeroner so sehr liebten, war Gilneas sicherlich eins der fortschrittlichsten Städte auf ganz Azeroth. Wir liefen den Kanal im Halbdunkeln ab, geschützt durch den dichten Regen und entdeckten sogar am schilfbewachsenen Ufer ein morsches Fischerboot, das aber seinen Dienst noch tun sollte. Wir fanden für Aedan, Ahndor und Gelt eine Felsspalte in der Nähe, die ihnen Sichtdeckung und einen kümmerlichen Regenschutz bot. Ich drückte Ahndor meine Flinte in die Hand, schließlich brauchte ich sie als Worgen nicht und warf ihm dabei einen leidhaften Blick zu. Ich hasste diese verfluchte Form, denn sie erinnerte mich an alles, was falsch mit meiner Heimat gelaufen ist, aber es wäre narrenhaft gewesen ihre Vorteile nicht zu erkennen.

Ich glaube, es gibt kein schrecklicheres Gefühl für mich, als die sprießenden Haare auf meiner Haut zu fühlen und meine wachsenden Knochen in meinem Körper spüren. Es brachte mich an den Rand der äußersten Übelkeit, aber ich vollzog meine Wandlung an Ort und Stelle, als es Zeit wurde. Als Worgen schimmerte mein Haar in einem silbrigen Ton, der an einigen Stellen in ein dunkles Matt überging. Als ich einmal in einen Spiegel blickte, fand ich größte Bedrohlichkeit in den stechend gelben Augen, zunächst nicht realisierend, dass es meine waren. Der Worgenfluch ist wahrlich ein durch Schrecken erfülltes Schicksal.

Es regnete weiterhin, aber die Sonne war längst untergegangen und wenn man den Mond durch die Wolken hätte sehen können, dann wäre sein prachtvolles Licht schimmernd auf unsere Hauptstadt gefallen. Stattdessen fing es aus der Ferne an zu Donnern und weit am Horizont vernahm man aufzuckende Blitze, die die Nacht erhellten. Nethalia und ich stiegen beide ins Boot, die breiten Pfoten als zweckmäßiges Ruder verwendend, um sanft durch das Wasser hin zum steinernen Kanaldock zu gleiten. Wir zogen das morsche Ding schließlich an Land, damit es nicht abtrieb, und stiegen vorsichtigen Schrittes die Treppe hinauf in den Bau jenes Feindes, der sich nicht einfach nur damit zufriedengeben würde uns zu töten, sondern mit seiner Beute spielte wie ein Wesen, das keine natürlichen Feinde kennt.

Marschbefehle wurden durch enge mit Kopfsteinen gepflasterten Gassen gebrüllt und der stetige Rhythmus sich im Stechschritt bewegender Soldaten hallte von den Hauswänden durch die ganze Stadt. Gedankenblitzartig erinnerte ich mich daran, wie ich vor dem Einfall der Untoten durch dieselben Gassen stolperte, während mir Worgen auf den Fersen waren. Mich aus meinen Erinnerungen reißend zog mich Nethalia mit einem kräftigen Ruck zurück, um hinter einem Gemäuer Deckung vor marschierenden Untoten zu finden. Mir stieg dabei heißer Rauch von einem schwelenden Gebäude in der Nähe in die Nase und irgendwo in der Ferne hörte ich menschliche Todesschreie. Die Untoten waren im Begriff die letzten Nester des gilnearischen Widerstands auszuräuchern, wortwörtlich. Ohne weitere Worte bohrte Nethalia ihre Krallen in die verputzte Wand des Gebäudes hinter dessen Mauer wir Schutz suchten und zog sich Meter für Meter die steile Fassade hoch. Im ersten Moment war ich perplex, jedoch tat ich es ihr schnell gleich. Dabei war ich im ersten Augenblick verblüfft, wie einfach es war sich mithilfe seiner eigenen Krallen ganze Gebäude hochzuziehen. Ich erzählte es nicht, allerdings muss dies wohl das erste Mal gewesen sein, dass ich Kraft meines eigenen Willens die Worgengestalt für eine solche Kletterpartie nutzte. Ich fürchtete zwar, dass die durchnässte Fassade jeden Moment zu bröckeln beginnen könnte, aber tatsächlich hielt sie das kräftige Gewicht zweier überdimensionierter Wölfe.

Auf dem Dach angekommen blies mir eine Brise kalter Regenluft entgegen, vermischt mit Rauch und dem vermoderten Gestank der Untoten. Ich merkte es zunächst nicht, aber Nethalia zögerte nicht lang und hastete über die verwitterten Dachziegel der Giebeldächer. Es hatte fast etwas anmutiges, wie sie ihren drahtigen Wolfskörper über die Dächer schwang und dabei immer mal wieder anhielt, um in die Straßen zu schauen. Ich versuchte selbst dabei Gassen auszumachen, die von den Hauptstraßen getrennt waren und mir vorhandene Versteckmöglichkeiten einzuprägen. Die Hauptstadt wirkte von oben so wunderlich, fast wie ein Labyrinth gewundener Wege, die sich schließlich in Knotenpunkten treffen. Wenn die Untoten nicht gewesen wären, hätte sich sicherlich ein eindrucksvolles Bild geboten.

„Siehst du den?“, knurrte Nethalia und deutete auf einen untoten Armbrustschützen in dunkler Lederrüstung, der zwei Häuserreihen weiter hinter einem Schornstein nach Norden hin auf der Lauer lag. Tatsächlich sah ich ihn selbst in der Nacht, meine Augen waren als Worgen so viel schärfer. Ich nickte, ehe sie ihren Abstand zu ihm mit einem gewaltigen Satz nach vorn substanziell verringerte, eine Hauswand hinabkletterte, um zwischen der Gasse die Fassade zu wechseln und mit einer unheimlichen Agilität an dem Haus hinaufzuklettern. Der Armbrustschütze hörte sie aufgrund des Regens nicht einmal kommen und durch einen beherzten Sprung in Kombination mit einem gezielten Streich ihrer messerscharfen Klauen riss sie dem Untoten den Hals von den Schultern. Äußerst bedacht fing sie den abgetrennten Kopf mitten in der Luft und legte ihn zu dem Rest der ohnehin schon verrottenden Leiche, damit er nicht in eine Gasse platschte und etwaige Wachposten alarmieren konnte. Ich bemühte mich ihr zu folgen, aber Nethalia war ruhelos. Sie war diese Form viel besser gewöhnt, als ich jedenfalls, und sprang akrobatisch von Dach zu Dach. Ich konnte nicht viel mehr tun und gab mich damit zufrieden sie nicht aus den Augen zu verlieren.

Sie erledigte auf diese Art und Weise ein paar Schützen, bevor ich sie beobachten konnte, wie sie sich an einer Wand hinunterhangelte, um ein Fenster mit hölzernen Läden aufzustoßen. Vielleicht brauchte sie eine kurze Verschnaufpause, also folgte ich ihr so schnell ich konnte. Ich weiß noch, wie ich fast die glitschige Mauer hinabgesegelt wäre, wenn ich mich nicht mit den Krallen im hölzernen Rahmen des Fensters verkantet hätte. Mit Mühe zog ich mich hinauf und plumpste ungeschickt auf den harten Holzboden des Obergeschosses. Ich wischte mir Staub aus dem haarigen Gesicht und hielt diese Wohnung in jenem dämmrigen Licht für die eines städtischen Tagelöhners, die natürlich schon ihre besten Zeiten hinter sich hatte, aber zumindest war sie nicht geplündert und halbwegs intakt. Es wirkte zunächst nur, als hätte sich jemand in Eile davongemacht. Ich kam nicht umhin den starken Drang fühlen zu müssen mein Fell auszuschütteln zu wollen, aber letztlich schaffte ich es diesem Instinkt widerstehen. Eine Tür sprang auf und ich konnte gerade einen Blick auf eine Kinderwiege erhaschen, als Nethalia die wuchtige Eichentür wieder in die Angel fallen ließ und so eine ganze Menge Staub aufwirbelte. „Was?“, blaffte sie mich ungehalten an. „Ich habe doch gar nichts gesagt.“, erklärte ich unschuldsbewusst. Sie starrte mich einen momentlang an und ich fühlte mich bereits unwohl, ehe sie zum Fenster stürmte und wieder in der Nacht verschwand. Ich hingegen war neugierig, stieß die schwere Tür auf und stellte fest, dass ich Recht hatte. Ein Staubfilm hatte sich zwar auf alles gesetzt, aber vor mir befand sich eine kindergroße Wiege, die mit allerlei Holzspielzeug gefüllt war. Ein unachtsamer Schritt ließ meine Pfote ein einsames Holzklötzchen in sich vergraben und ich musste aufpassen, den Schmerz zu beherrschen. Ich trat das teuflische Teil trommelnd beiseite und verfluchte es klammheimlich, dennoch richtete es meine Aufmerksamkeit auf eine Kohlezeichnung, die halb unter einer Kommode versteckt war. Ich erkannte Nethalias Zeichenstil, schließlich war dies eine ihrer liebsten Beschäftigungen, wenn wir sie anderweitig nicht beschäftigen konnten. Mit Schwermut leckte ich mir über die Lefzen und schnaufte, das musste Nethalias Haus gewesen sein. Das leere Bett eines Neugeborenen erklärte mir nun, weshalb diese einsame Frau dem Alkohol frönte und Jähzorn ihr Herz vergiften ließ. Ich steckte zwar die Zeichnung ein, aber ich beschloss die Vergangenheit der Nethalia Shawn ruhen zu lassen und kletterte wieder hinaus aufs Dach. Nethalia sagte nichts, aber ihr Blick verriet mir, dass sie mich nur allzu gerne fragen wollte, was ich dort drinnen so lang getrieben hatte. Stattdessen deutete ich in Richtung eines Straßenzugs, der uns direkt zum Kanal nach Kielwasser führen würde. „Wollen wir?“, fragte ich sie erwartungsvoll. Sie nickte lediglich.

Wir stießen auf keine weiteren Schützenposten, allerdings marschierten im letzten Abschnitt nach Kielwasser auffällig viele Patrouillen durch die gewundenen Straßen. Wir würden sie gezielt ablenken müssen, um unbeschadet an ihnen vorbei zu gelangen. Ich machte mir besondere Sorgen um diese zusammengeflickten Monstrositäten, die selbst einen Worgen mit einem Streich entzweihacken konnten. Sie begleiteten die kleineren Wacheinheiten, scheinbar um deren geringere Zahl auszugleichen. „Wir werden uns was für die einfallen lassen müssen.“, erklärte Nethalia mir meine Gedanken nochmal ihren eigenen Worten. Dieses Mal war ich derjenige, der nickte. „Lass uns zurückkehren und die Jungs holen.“, fuhr sie fort. Als wir zum Treffpunkt zurückkehrten, fanden wir die drei Gauner sich ihres Proviants ergötzend vor. Mittlerweile hatte der Regen stark nachgelassen, wenngleich der Himmel immer noch bleiern über uns hing. Aedan schob sich gerade ein Stück Räucherfisch in den Mund und trockenes Brot sollte gerade folgen, da schreckten sie alle drei auf. Nethalia stieg etwas zu hastig in die Felsspalte und heimste ihnen womöglich den Schrecken ihres Lebens ein, aber zum Glück warteten sie nicht mit Gewehr im Anschlag, sondern fraßen sich selig. „Wir haben nun eine Ahnung, welche Straßen sicher sein sollten.“, fing ich an. „Aber wir werden kreativ sein müssen, wenn wir unbemerkt der Stadt entkommen wollen.“, vollendete Nethalia meinen Satz und warf einen missgünstigen Blick in Richtung der Stadt, in welcher sich erneut die Rufe nach Marschbewegungen regten.

Da ich vor kurzem wieder in Kontakt mit der Spielerin von Nethalia getreten bin, hab ich heute eine Geschichte, die sich mehr oder minder mit ihr beschäftigt. Ich hoffe auch dieses Mal, dass man Gefallen am Text findet und bin sehr froh, dass meine Arbeit hier mich wieder mit Menschen, die ich vor rund 10 Jahren!! kennenlernte, verbindet.

Habt ein schönes Wochenende
Euer Gendric

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