Spät am Abend hatte sich Mirabeau in ihr kleines Gemach im Turm der Burg der Nethergarde zurückgezogen. Die Kammer wurde nur spärlich durch einige einsame Kerzen erleuchtet, und vom Burghof drangen immer wieder laute Ausrufe der feiernden Gäste an ihr Ohr.
Sie wäre jetzt gerne dort unten, dachte sie. Herr Chakkar war eigens aus Stormwind angereist, um hier vor Ort die Streiter der Allianz zu bewirten.
Aber sie konnte nicht dort unten sein - sie konnte ihren Kopf nicht abschalten.
In ihrem aufgewühlten Geist ließ sie die letzten Tage Revue passieren.
Nach dem Aufbruch aus ihrem Lager im Pass der Totenwinde wurde ihr Trupp abermals von garstigen Riesenspinnen angegriffen. Just als die zähen Biester bezwungen waren, bog die Delegation der Schildbrecher um die Ecke und auch aus der Burg Nethergarde traf in diesem Augenblick eine Hundertschaft Bewaffneter als Eskorte ein.
Es schien, dass die halbe Allianz in diesem Moment im Pass versammelt war.
Für Mira war es eine große Erleichterung, denn nun fühlte sie sich inmitten vieler Freunde vollkommen sicher.
Als sie endlich Nethergarde erreichten, fiel zunächst eine große Last von ihr ab.
Die so wichtigen Papiere der Hochzauberer hatten endlich ihren Bestimmungsort erreicht, und zunächst sah sich die junge Magierin bar jeder Last.
Doch nicht allzu lange. Erst jetzt wurden ihr die Auswirkungen ihrer Mission so richtig gewahr. Bar jeder Last? Pustekuchen! Die wahre Last begann wie ein Schatten heran zukriechen.
Immer wieder wurde sie gefragt: „Miss Lassalle, wie geht es nun weiter?“.
Ihre Antwort war stets: „Wir werden das Portal untersuchen und dann entscheiden.“
Was die Wahrheit war. Sie war ohnehin eine furchtbar schlechte Lügnerin.
Doch ganz langsam und doch unausweichlich entpuppten sich solch harmlos klingende Worte wie „Untersuchen“ und „Entscheiden“ als eine monströse Last ungeahnten Ausmaßes heraus.
Die eifrige Magistra Miss Agatha Schilling hatte eigens zum Zwecke der Untersuchung Armreifen anfertigen lassen, deren innenwohnende Magie vor den Einflüsterungen dunkler Energien am Portal schützen sollten. Was eine großartige Leistung war.
Mira hatte sich den Tag über mit allerlei -wie soll es auch anders sein- Papieren beschäftigt. Insbesondere studierte sie die Sichtungen der Dämonenangriffe, die aus allen Winkeln der Königreiche gemeldet wurden.
Sie trug diese Meldungen auf einer Karte ein um sich ein Bild zu machen, doch zunächst konnte sie sich keinen Reim darauf machen. Die Einfälle der Dämonen erschienen ihr höchst unkoordiniert, beinahe zufällig.
Was sollte das nur bedeuten? Es dauerte eine ganze Weile, bis Mira eine Theorie daraus ableitete. Ein Gedanke, der sie nicht mehr losließ.
„Was, wenn das gar kein Angriff ist?
Die Dämonen griffen nicht an - sie flohen vor etwas.!“
Später am Abend dann hielt sie es nicht mehr aus. Gemeinsam mit ihren Freunden Teijin und Miss Niwet McAllister ritt sie zum Dunklen Portal.
Sie musste es einfach persönlich sehen!
Dort angekommen, wurde sie schlicht überwältigt von den Eindrücken die unbarmherzig auf sie Einprasselten.
Wie ein Belagerungsheer hatten sich die Truppen der Argentumdämmerung vor dem Portal verschanzt und wehrten die einfallenden Wellen dämonischer Kreaturen aufopferungsvoll ab.
Und im Hintergrund dräute das riesige Dunkle Portal.
Mächtig. Ehern. Bedrohlich.
Entschlossen ließ Mira ihre arkanen Kräfte fließen um einen Blick auf die magische Ebene zu werfen. Das hätte sie besser nicht getan.
Viele Stunden später am Abend, allein in ihrer Stube, dachte sie angestrengt über das nach was sie am Portal gesehen hatte. Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Etwas, was sie gemeinhin sehr wohl beherrschte. In diesem Falle jedoch waren die Gedanken und ihre Folgerungen zu monströs, zu gewaltig.
Es dauerte lange, bis sie dich bahnbrechen konnten.
Und so brachte Mira tief in der Nacht, erschöpft und belastet ob der ganzen Tragweite zu Papier:
"Ein gewaltiger Fluss purer Magie strömt aus dem Dunklen Portal in unsere Welt hinein.
Wie Treibgut werden die Heerscharen der Dämonen an unsere Ufer getrieben.
Möglichkeit eins:
wir errichten einen Damm um den Fluss zu stoppen. Sprich: wir schließen das Portal.
Problem:
die Kräfte hinter dem Portal werden den Damm irgendwann zum Einsturz bringen.
Möglichkeit zwei:
wir schwimmen den Strom hinauf und stoppen den Fluss an seiner Quelle. Sprich: wir versuchen die Wurzel herauszureißen.
Problem:
Alles!"
Seufzend setzte Mira die Feder ab und starrte in das flackernde Licht der Kerzen.
Sie wusste, dass am Abend ein großer Trupp zum Portal aufbrechen würde. Und sie würde mittendrin sein. Es konnte möglich sein, dass die Truppen der Allianz und auch der Horde auf die andere Seite de Portals gelangen mussten um ihre Welt zu retten.
Mira wünschte sich so sehr, dass sie Unrecht hatte.
Sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und verbrachte den Rest der Nacht grübelnd und in dem hoffnungslosen Versuch die Tragweite der Ereignisse zu verarbeiten.
Schlaf wurde ohnehin überbewertet.