⟡ Erster Eintrag – „Die Dinge, die man nicht ausspricht“
„Es ist nicht die Stille, die einen zerfrisst. Es ist das, was darin zu laut wird.“
Staub tanzte im schrägen Licht eines vernarbten Fensterlochs. Schattenleid saß auf einem wackligen, dreibeinigen Hocker, die Knie angezogen, die Kapuze zurückgeschoben. Ihr Haar fiel lose über eine Schulter, einige Strähnen klebten an der Stirn. Der Raum war leer, bis auf eine Truhe, ein paar morschen Regalbretter und die Erinnerung an Leben, das längst fort war.
Vor ihr auf einem improvisierten Tisch: ein altes, ledergebundenes Buch. Die Ecken rundgewetzt, der Einband fleckig. Daneben ein kleiner Tiegel mit getrockneter Tinte, durch Wärme wieder weich gemacht. Eine Feder, deren Spitze sie vor Beginn eigenhändig neu geschnitten hatte. Das Werkzeug des Erinnerns – oder des Fluchs.
Sie betrachtete das leere Blatt, als wollte sie erst sich selbst darin finden. Ihre Finger ruhten zögernd auf dem Einband. Dann, fast entschlossen, schlug sie ihn auf. Die erste leere Seite. Weiß wie ein Leichentuch.
Sie hatte früher oft geschrieben. Immer dann, wenn das Schweigen der Welt ihr zu laut wurde. Es war nie Gewohnheit gewesen – eher ein Rückzugsort. Doch in den Jahren als Assassine hatte sie sich diesen Ort verboten. Kein Schriftstück, kein Wort durfte bleiben. Kein Beweis. Kein Schatten.
Jetzt aber… war alles anders.
Langsam, beinahe feierlich, tunkte sie die Feder in die Tinte. Die Spitze berührte das Papier – ein erster Hauch, ein Widerstand, der nachgab. Und dann: die Worte.
Silberwald. Verlassener Unterschlupf. Nebel legt sich auf alles. Auch auf mich.
Ich schreibe wieder. Nicht aus Gewohnheit. Nicht aus Sehnsucht.
Sondern, weil ich es wieder darf.
Dornogal brennt noch in meinen Gedanken. Zwei Menschen. Zwei Leben.
Nicht planlos. Nicht grausam.
Aber sie sind tot.
Und ich habe es getan.
Der Exekutor sagte nicht viel.
Nur, dass ich freigestellt sei. Vorübergehend.
Das Wort klang wie ein Urteil auf Bewährung.
Er sprach von Besinnung.
Ich weiß nicht, ob ich mich erinnern will.
Ich soll einen Kopf abliefern.
Maia.
Ein Name. Eine Geschichte.
Jetzt nur noch ein Objekt in einer Tasche aus dunklem Leder.
Verstaut.
Geruch: säuerlich. Metallisch.
Ich habe ihn nicht abgetrennt. Aber ich trage ihn.
Die Apothekervereinigung erwartet ihn.
Beweise. Zeichen. Beute?
Ich werde ihn dort abgeben.
Ohne Fragen. Ohne Miene.
Aber nicht ohne Erinnerung.
Er hat mir einen Vorschlag gemacht. Der Exekutor.
Ich solle mich einer anderen Gemeinschaft anschließen.
Zivile Strukturen.
Korpus V, hat er gesagt.
Und dass Lyndrail dort sei. Die Todespirscherin.
Ich erinnere mich an Lyndrail.
Vielleicht… ist es eine Richtung.
Oder nur ein Fluchtweg, den man mir hinwirft, damit ich nicht stürze.
Ich schreibe das alles nieder, weil es sonst keinen Ort gibt, an dem es existiert.
Weil ich vielleicht nicht vergessen will, was mich geformt hat.
Oder weil ich Angst habe, es doch zu tun.
Die Feder verharrte. Ein letzter Punkt. Ein Atemzug. Schattenleid starrte auf die Seite, die nun nicht mehr leer war. Worte, eingefangen zwischen Zeilen, wie Leichen zwischen Steinen im Flussbett.
Langsam klappte sie das Buch zu, nicht hastig, nicht feierlich. Nur still. Die Tasche mit Maias Kopf stand unweit von ihr. Verschlossen. Verstaut. Aber in diesem Moment schwerer als alles, was sie je getragen hatte.
Sie verharrte noch lange. Kein Laut. Nur ihr Atem, das entfernte Tropfen von Kondenswasser, das Knarzen des morschen Holzes über ihr. Und irgendwo im Nebel: ein erstes Krächzen eines Rabens.
Die Nacht war lang. Und der Weg zurück ins Licht… kaum sichtbar.