[UD-RP / H] Tagebuch einer Todespirscherin

⟡ Erster Eintrag – „Die Dinge, die man nicht ausspricht“

„Es ist nicht die Stille, die einen zerfrisst. Es ist das, was darin zu laut wird.“

Staub tanzte im schrägen Licht eines vernarbten Fensterlochs. Schattenleid saß auf einem wackligen, dreibeinigen Hocker, die Knie angezogen, die Kapuze zurückgeschoben. Ihr Haar fiel lose über eine Schulter, einige Strähnen klebten an der Stirn. Der Raum war leer, bis auf eine Truhe, ein paar morschen Regalbretter und die Erinnerung an Leben, das längst fort war.

Vor ihr auf einem improvisierten Tisch: ein altes, ledergebundenes Buch. Die Ecken rundgewetzt, der Einband fleckig. Daneben ein kleiner Tiegel mit getrockneter Tinte, durch Wärme wieder weich gemacht. Eine Feder, deren Spitze sie vor Beginn eigenhändig neu geschnitten hatte. Das Werkzeug des Erinnerns – oder des Fluchs.

Sie betrachtete das leere Blatt, als wollte sie erst sich selbst darin finden. Ihre Finger ruhten zögernd auf dem Einband. Dann, fast entschlossen, schlug sie ihn auf. Die erste leere Seite. Weiß wie ein Leichentuch.

Sie hatte früher oft geschrieben. Immer dann, wenn das Schweigen der Welt ihr zu laut wurde. Es war nie Gewohnheit gewesen – eher ein Rückzugsort. Doch in den Jahren als Assassine hatte sie sich diesen Ort verboten. Kein Schriftstück, kein Wort durfte bleiben. Kein Beweis. Kein Schatten.

Jetzt aber… war alles anders.

Langsam, beinahe feierlich, tunkte sie die Feder in die Tinte. Die Spitze berührte das Papier – ein erster Hauch, ein Widerstand, der nachgab. Und dann: die Worte.


Silberwald. Verlassener Unterschlupf. Nebel legt sich auf alles. Auch auf mich.
Ich schreibe wieder. Nicht aus Gewohnheit. Nicht aus Sehnsucht.
Sondern, weil ich es wieder darf.

Dornogal brennt noch in meinen Gedanken. Zwei Menschen. Zwei Leben.
Nicht planlos. Nicht grausam.
Aber sie sind tot.
Und ich habe es getan.

Der Exekutor sagte nicht viel.
Nur, dass ich freigestellt sei. Vorübergehend.
Das Wort klang wie ein Urteil auf Bewährung.
Er sprach von Besinnung.
Ich weiß nicht, ob ich mich erinnern will.

Ich soll einen Kopf abliefern.
Maia.
Ein Name. Eine Geschichte.
Jetzt nur noch ein Objekt in einer Tasche aus dunklem Leder.
Verstaut.
Geruch: säuerlich. Metallisch.
Ich habe ihn nicht abgetrennt. Aber ich trage ihn.

Die Apothekervereinigung erwartet ihn.
Beweise. Zeichen. Beute?
Ich werde ihn dort abgeben.
Ohne Fragen. Ohne Miene.
Aber nicht ohne Erinnerung.

Er hat mir einen Vorschlag gemacht. Der Exekutor.
Ich solle mich einer anderen Gemeinschaft anschließen.
Zivile Strukturen.
Korpus V, hat er gesagt.
Und dass Lyndrail dort sei. Die Todespirscherin.
Ich erinnere mich an Lyndrail.

Vielleicht… ist es eine Richtung.
Oder nur ein Fluchtweg, den man mir hinwirft, damit ich nicht stürze.

Ich schreibe das alles nieder, weil es sonst keinen Ort gibt, an dem es existiert.
Weil ich vielleicht nicht vergessen will, was mich geformt hat.
Oder weil ich Angst habe, es doch zu tun.


Die Feder verharrte. Ein letzter Punkt. Ein Atemzug. Schattenleid starrte auf die Seite, die nun nicht mehr leer war. Worte, eingefangen zwischen Zeilen, wie Leichen zwischen Steinen im Flussbett.

Langsam klappte sie das Buch zu, nicht hastig, nicht feierlich. Nur still. Die Tasche mit Maias Kopf stand unweit von ihr. Verschlossen. Verstaut. Aber in diesem Moment schwerer als alles, was sie je getragen hatte.

Sie verharrte noch lange. Kein Laut. Nur ihr Atem, das entfernte Tropfen von Kondenswasser, das Knarzen des morschen Holzes über ihr. Und irgendwo im Nebel: ein erstes Krächzen eines Rabens.

Die Nacht war lang. Und der Weg zurück ins Licht… kaum sichtbar.

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⟡ Zweiter Eintrag – „Zwischen Befehl und Entscheidung“

„Wenn der Auftrag endet, beginnt das Denken. Und das Denken… ist gefährlicher als jede Klinge.“

Die Höhle war kaum mehr als eine Ausbuchtung im Fels, zugewachsen, kaum einsehbar vom Trampelpfad, der sich in einer windigen Linie durch das Wurzelwerk des Silberwaldes zog. Eine natürliche Zuflucht, verborgen zwischen Moos und Schatten.

Schattenleid hatte sich eingerichtet, so spartanisch wie eh und je. Eine Matte, fest genug, um den Rücken nicht ganz aufgeben zu lassen. Daneben: der Beutel. Das Leder dunkel, gegerbt, schwer. Unbeweglich lag er da – und doch wirkte er, als beobachte er sie.

Sie saß im Schneidersitz, ruhig, die Schultern entspannt, doch die Muskeln bereit. Ihre Kapuze hatte sie abgelegt, der Gesichtsschutz hing locker am Hals. Es war ein stilles Bild. Eine Frau, der man einst befohlen hatte zu verschwinden – nun greifbar, sichtbar, allein.

Auf ihrem Schoß lag ein grob geschliffenes Holzbrett, das als Schreibunterlage diente. Darauf: ihr altes Tagebuch, aufgeschlagen. Die Seite davor noch feucht von der Tinte des letzten Eintrags. Der neue: leer. Noch.

Sie hob die Feder, zögerte kurz – nicht aus Unsicherheit, sondern um den Gedanken zu ordnen, der nicht recht gehorchen wollte. Dann begann sie zu schreiben, mit einer Mischung aus Ruhe und Kalkül, wie man eine Klinge zieht: mit Bedacht.


Silberwald. Nähe des Grabmals. Nacht bricht herein.

Die Erde hier roch einst nach Asche, daran erinnere ich mich noch. Und der Wind trägt noch immer Stimmen, die nicht gesprochen werden. Ich höre sie nicht, aber ich weiß, dass sie da sind. Alte Schreie, eingeweht in den Stein.

Der Kopf liegt neben mir.
Maia. Oder das, was von ihr bleibt.
Der Beutel ist gut verschlossen, doch der Geruch… durchdringt alles.
Ich werde ihn morgen abgeben. Apothekervereinigung. Mikail Korov.
Ein letzter Befehl. Danach – nichts. Keine Kette. Keine Stimme im Ohr. Kein Schatten über der Schulter.

Nur ich.

Wird es einfach verlaufen? Ich weiß es nicht.
Ein Teil von mir vertraut dem Ablauf. Der andere…
… denkt bereits in Richtungen, die Flucht heißen.
Ich habe begonnen, das Gelände rund um das Grabmal zu skizzieren.
Zugänge. Engstellen. Deckung.
Nicht aus Paranoia. Aus Vorsicht. Aus Erfahrung.

Sie hält inne, zeichnet mit geübter Hand.

Der Stift kratzt über die Seite, Linien entstehen, ein grober Grundriss. Der südliche Zugang. Die alte Krypta. Der Spalt am Westhang. Schlupflöcher, wenn etwas schiefläuft. Oder wenn jemand zu viel fragt.

Dann schreibt sie weiter.

Ich überlege, den Kultisten noch einmal einen Besuch abzustatten.
Nicht, weil ich es muss – sondern weil ich es kann.
Zivilistin.
Das Wort klingt falsch in meinem Kopf.
Falsch… aber frei.

Ich habe Fragen. Dinge, die nicht ausgesprochen wurden.
Verstrickungen. Absichten. Dieser Nachtbann hat es verdient, die Wahrheit zu erfahren.
Ich werde keine Masken mehr tragen. Wenn ich gehe, dann als ich selbst.
Wenn ich zurückkehre – dann vielleicht nicht mehr als das, was ich war.

Für heute ist genug gesagt.
Ich werde wachen. Träumen ist gefährlich an Orten wie diesen.


Sie legte die Feder beiseite, betrachtete ihre Skizze, blinzelte gegen die Dunkelheit. Die Höhle atmete mit ihr. Kein Laut außer dem fernen Schrei eines Nachtraben.

Dann schob sie das Buch beiseite, zog die Kapuze wieder näher heran – nicht, um sich zu verbergen, sondern um die Stille ein wenig einzurahmen. Der Beutel blieb unberührt. Doch er lag da, als würde er lauschen.

Schattenleid schloss die Augen – nicht zum Schlafen. Nur für einen Moment.
Nur, um zu nach zu denken.

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⟡ Dritter Eintrag – „Ein Schnitt aus Worten“

„Es gibt Worte, die schneiden tiefer als jede Klinge. Und doch müssen sie gesprochen werden – oder sie verfaulen in uns.“

Der Nebel hing schwer an den Zweigen, als sie den letzten Satz vollendete.

Schattenleid hatte ihre Matte wieder an exakt derselben Stelle ausgebreitet wie in der Nacht zuvor. Dieselben Bewegungen. Derselbe Rhythmus. Und doch… etwas war anders.

Seitlich von ihr saß Shaine Nachtbann. Er hatte seit Minuten nicht gesprochen, den Blick starr in die graue Tiefe des Silberwaldes gerichtet. Sein Rücken war angespannt, seine Hände ruhten auf den Knien – reglos, als hielten sie einen Kampf in sich gefangen. Einen, der nicht mit Schwertern, sondern mit Erinnerungen geführt wurde.

Sie würde ihn nicht stören. Nicht jetzt. Nicht mit Fragen, die er sich selbst noch nicht beantworten konnte.

Der Weg hierher war nicht weit. Doch die Schritte, die sie gegangen war, wogen schwer. Zuerst das Grabmal. Die Apothekervereinigung. Mikail Korov.

Und dann Azj-Kahet.

Dort hatte sie nicht auf die Anführer getroffen – nicht auf Schwarzfunke, nicht auf Maladan. Nur vier hatten im Schatten gewartet: Yenysae, die Stille in Person. Die Illidari Cyndris, gefährlich wie gebändigtes Feuer. Zholvar – listig, wach, lauernd. Und schließlich: Shaine.

Schattenleid hatte gesprochen.
Hatte die Wahrheit ausgesprochen, wie einen Schnitt.

Und dann – bebte der Raum.
Shaine hatte die Faust auf den Tisch geschlagen.
Risse zogen sich durch den uralten Stein.
Er schrie. Er zitterte.
Nicht, weil er schwach war – sondern weil etwas in ihm brach.

Und sie?
Sie blieb sitzen. Standhaft.
Bereit, zu fallen.
Aber der Schlag kam nicht.

Sein Zorn traf andere.
Schwarzfunke. Ziah.
Zholvar stachelte ihn.
Und Schattenleid – sie trat dazwischen.

Nicht um zu retten.
Sondern um zu erinnern.

Jetzt war sie hier.
Die Feder zwischen den Fingern.
Das Buch auf dem Schoß.
Der Nebel im Nacken.
Und einer, der atmete – nicht weit entfernt.
Sie begann zu schreiben.


Silberwald. Das Grabmal schläft. Aber unter der Erde… gären Gedanken.

Mikail Korov.
Seine Stimme war wie eine Skalpellklinge.
Kalt. Genau.
Nicht feindlich – aber nie freundlich.

Ich habe geliefert.
Den Kopf.
Das, was von Maia blieb.

Er sprach von ihrer Essenz. Von Experimenten.
Von Verstand, der zerrann wie Blut in Wasser.
Er will sie weiter nutzen.
Vielleicht sogar nach dem Tod.

Ich habe ihm das Gift erklärt – grob.
Er will die Rezeptur.
Bald.

Ich werde sie schreiben.
Nicht aus Angst.
Nicht aus Pflicht.
Sondern, weil er die Wahrheit akzeptierte und offen sprach.
Und um ein kleines Stück Schuld zu tilgen.

Dann Azj-Kahet.

Nicht Schwarzfunke. Nicht Maladan.
Lediglich eine Illidari namens Cyndris, eine Kaldorei - Nachtstern, der Irdene Zholvar.
Und er.

Shaine.

Ich habe es gesagt.
Offen.
Ich habe Maia getötet.

Die Worte brannten.
Aber ich ließ sie zu.
Ich erwartete den Tod.

Stattdessen:
Seine Faust.
Ein Schlag.
Stein barst.
Der Tisch – zerbrach beinahe.

Er schrie.
Ein Beben.
Nicht nur im Raum.
In mir.

Dann richtete er sich auf.
Sein Zorn – suchend.
Fand nicht mich.
Fand sie.

Ziah.
Schwarzfunke.

Er sagte, sie trügen die Schuld.
Zholvar stachelte ihn an – fast gierig.
Ein Raubtier, das Blut roch.

Ich sah, wie etwas begann.
Etwas Gefährliches.
Etwas… Zersetzendes.
Loyalität!?
Ich sprach es an, mischte mich dann aber nicht weiter ein.

Doch habe ich ihm – Shaine – die Hand gereicht.
Nicht körperlich. Aber in Worten.

„Komm mit mir. Zurück. In die Heimat.“

Und er folgte.

Zurück in die Heimat.
Zu den Verlassenen.
Nicht als Soldat. Nicht als Kultist.
Als das, was geblieben ist.

Er sitzt nun mit dem Rücken zu mir.
Er spricht nicht. Aber seine Stille ist voller Stimmen.
Ich werde nicht drängen. Nicht führen. Nur da sein.

Das ist neu für mich.

Ich frage mich, was bleibt.
Von mir.
Von uns.
Von allem.


Sie legte die Feder ab, schloss das Buch mit einem leisen klapp.
Ihr Blick wanderte zu Shaine. Noch immer reglos, nur das Heben und Senken seines Brustkorbs im Takt der langsamen Atmung.

Schattenleid lehnte sich leicht zurück, ließ den Blick durch die Höhle gleiten. Der Silberwald hatte sie wieder. Doch diesmal… war sie nicht mehr dieselbe.

Und vielleicht – ganz vielleicht – musste sie das auch nicht mehr sein.

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⟡ Vierter Eintrag – „Der Zwischenraum“

„Nähe ist nicht immer Berührung. Manchmal ist sie bloß das Aushalten derselben Stille.“

Der Tag hatte sich ohne Eile durch das Grau gearbeitet. Die Sonne war kaum mehr als ein fahler Schimmer hinter Nebelschwaden gewesen, das Licht ein mattes Grau, das auf allem lag wie ein zu lange getragener Schleier.

In der Höhle hatte sich kaum etwas verändert – nur der Rhythmus des Atmens, das feine Knacken von feuchtem Holz, das gelegentliche Rascheln von Stoff, wenn einer sich bewegte.

Schattenleid saß auf ihrer Matte, die Beine untergeschlagen, den Rücken aufrecht, wie eine Marionette, die sich selbst auf Spannung hielt, um nicht zu verfallen.
Vor ihr das Buch. Offen. Das Holzbrett auf dem Schoß.

Neben dem Eingang der Höhle, zwischen ein paar knorrigen Wurzeln, saß ein Rabenkadaver. Aufgeplustert, schwarz wie Tusche, lebendig. An einem seiner Beine: ein kleines, fest verschnürtes Bündel. Der Rabe stieß einen ungeduldigen Laut aus, als sie sich ihm näherte.

Schattenleid trat hinaus, den Brief in der Hand. Nur wenige Zeilen, klar und präzise, an Lyndrail gerichtet. Eine Nachricht – kein Bekenntnis. Kein Erklären. Nur Fakten, Verbleib, Absichten.

Der Vogel erhob sich mit einem knappen Flügelschlag, wurde vom Nebel verschluckt, als wäre er nie da gewesen.

Sie blieb noch einen Moment stehen. Der Nebel schmeckte nach Eisen.

Dann kehrte sie zurück – zurück in das Schweigen.

Shaine saß da, wie er es oft tat: ruhig, nach außen hin ungerührt. Die Schultern wirkten schwer, der Blick ging ins Draußen, aber seine Gedanken… die waren weit, vielleicht tiefer, als sie ahnen konnte.

Schattenleid sah zu ihm. Einen Moment zu lang.
Sie wollte sprechen.

Aber sie tat es nicht.

Stattdessen griff sie zur Feder.


Silberwald. Nebel. Ich höre ihn atmen. Er hört mich schweigen.

Ich habe einen Brief geschrieben.
An Lyndrail.
Klar. Nüchtern.
Kein „Wie geht es dir?“
Kein „Ich hoffe, du verstehst.“
Nur das, was notwendig war.

Ein Rabe hat ihn fortgetragen.
Ich frage mich, ob er ankommt.
Ob es etwas ändern wird.
Oder ob es nur ein Zeichen war, dass ich nicht ganz verschwunden bin.

Shaine…
Er spricht nicht.
Nicht mit mir.
Vielleicht mit sich selbst. Vielleicht mit den Toten.

Ich sehe ihn.
Seine Haltung.
Den Schatten in seinen Augen.

Ich weiß, dass er trauert.
Ich weiß, dass er denkt.
Und ich weiß, dass ich ihn nicht stören darf.

Oder will.
Oder kann.

Ich weiß es nicht.

Nähe war nie Teil meiner Aufträge.
Ich lernte, zu beobachten.
Zu töten.
Nicht… zu warten.
Nicht… zu leben mit jemandem, der noch lebt.

Wir teilen uns einen Raum.
Aber nicht unsere Stimmen.
Nur Blicke, die sich nicht treffen.
Bewegungen, die sich ausweichen.

Es ist nicht seine Schuld.
Auch nicht meine.

Es ist nur… neu.

Ich will ihm Zeit geben.
Noch einen Tag.
Vielleicht zwei.

Dann werde ich ihn ansprechen.
Ich weiß nicht, was ich sagen werde.
Aber ich werde es sagen.

Ich muss.

Denn dieses Schweigen beginnt, in mir zu hallen.


Schattenleid schloss das Buch leise. Der Einband fühlte sich kühl an, glatt vom Gebrauch.

Sie sah zu Shaine. Er bewegte sich nicht. Und das bedeutete so viel.

Sie würde warten. Noch ein wenig.
Aber nicht ewig.

Denn wenn Worte zu lange schweigen,
beginnen sie, sich selbst zu verschlingen.

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⟡ Fünfter Eintrag – „Wenn Worte wieder leben“

„Nicht jedes Gespräch heilt. Aber manche lassen das Schweigen atmen.“

Die Feder zitterte leicht in ihrer Hand – nicht vor Kälte. Nicht vor Angst. Sondern, weil die Stille, an die sie sich gewöhnt hatte, heute durchbrochen worden war.

Zum ersten Mal.

Schattenleid saß auf ihrer Matte, wie immer, die Beine im Schneidersitz, das Buch vor sich, geöffnet. Die Schriftzüge auf der letzten Seite waren kaum trocken, aber sie fühlte, dass heute ein neuer Eintrag nötig war. Kein Bericht. Kein Bekenntnis. Sondern ein Versuch, einen Moment festzuhalten, der… etwas bedeutete.

Shaine hatte gesprochen.

Sie hatte nicht gewusst, wie es anfangen würde – und vielleicht war es auch nicht wichtig. Vielleicht war es nur ein Blick gewesen, der etwas einbrach. Oder der Nebel, der sich kurz lichtete. Aber da war plötzlich ein Satz. Und dann noch einer. Und sie hatte geantwortet.

Nicht distanziert. Nicht professionell.
Nicht wie Schattenleid.
Sondern wie Emilia.

Über den Leerenkult, Korpus V, über Maia Korov, die Apothekervereinigung und Ziah.

Und irgendwann, fast zögerlich, hatte sie das Buch genommen und es ihm hingehalten. Und er hatte gelesen. Die Einträge über Maia. Über Mikail Korov. Über das, was geblieben war. Und was nicht.

Jetzt… lag das Buch wieder bei ihr. Doch es fühlte sich anders an.
Nicht mehr nur wie ein Behälter ihrer Schuld.
Sondern wie ein geteilter Ort.

Sie begann zu schreiben – ohne innezuhalten.


Silberwald. Es regnet nicht.

Heute hat er gesprochen.
Shaine.

Er hat mich angesehen, und seine Stimme war leise.
Kein Vorwurf. Keine Wut.

Wir sprachen über Maia.
Über ihren Tod.
Ich sagte ihm, dass sie nicht litt, aber alles mitbekam.

Es fiel ihm immer noch sichtlich schwer.

Er fragte, was ich über Koprus V wisse.
Ich sagte ihm, was mir der Exekutor erzählte.

Ich erzählte auch von meinem Treffen mit Ziah.
Diese seltsame Blutelfe, es ist alles so sehr verworren.

Ich habe ihm mein Tagebuch gezeigt.
Er zögerte erst, las dann aber doch.
Die Seiten, auf denen ich Maia beerdigt hatte –
nicht mit Erde, sondern mit Tinte.

Er las sie.
Langsam.
Dann gab er mir das Buch zurück.
Und seine Worte hallen noch immer in mir nach.

Ich glaube…
wir sind uns nun nicht mehr allzu fremd.

Jetzt frage ich mich, wie es sein wird –
das erste Treffen mit Korpus V.

Wie werden sie auf mich reagieren?
Wie werden sie Shaine Nachtbann aufnehmen - den wiedererweckten Ritter?
Wird meine Vergangenheit als Assassine ein Problem darstellen?

Es ist ungewohnt, sich über derlei Dinge Gedanken zu machen.
Ich bin tatsächlich aufgeregt.
Aber ich werde gehen.

Und vielleicht…
Teil von etwas werden, das mehr ist als ein Auftrag.


Schattenleid legte die Feder ab, fuhr mit zwei Fingern langsam über die noch feuchte Tinte.

Der Nebel draußen war derselbe wie am Vortag.
Aber irgendetwas…
war leichter geworden.

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⟡ Sechster Eintrag – „Ein Schritt in die Reihen“

„Fremde kann ein Raum sein. Aber auch ein Zustand. Und manchmal… reicht ein Name, ein Blick, ein Lächeln – um beides zu verändern.“

Neu-Brill war stiller als erwartet. Nicht im wörtlichen Sinn – das Klirren von Werkzeug, das Rufen von Wachen, das unaufhörliche Knirschen der Holzplanken unter Schritten waren da. Doch es war ein anderes Stillsein. Eines, das Ordnung atmete. Wiederaufbau. Zielstrebigkeit.

Schattenleid saß im Bureau im Obergeschoss des Gasthauses – ein nüchterner, klar strukturierter Raum. Ein Ort, der nicht viel wollte außer Funktion. Und dennoch war es genau dieser Mangel an Zerstreuung, der es ihr ermöglichte, zu schreiben.

Das schwarze Brett hatte sie vorher studiert. Es sprach in Fragmenten – Namen, Orte, Hinweise. Vieles war ihr noch fremd, manches klang nach Dingen, in die sie sich würde einfügen müssen.

Und doch: Heute war ein Schritt getan worden. Ein echter.

Sie atmete langsam aus, griff zur Feder, das Buch offen auf ihrer Unterlage.


Neu-Brill. Gasthaus. Bureau. Ich sitze. Aber der Tag hallt nach.

Ich war nervös.
Vor dem Treffen.
Vor dem Korpus.
Vor allem.

Ich fragte mich, ob sie mich erkennen würden.
Verurteilen.
Beobachten.

Aber ich war nicht allein.
Shaine war bei mir.
Er sprach zuerst.
Wie selbstverständlich.
Er stellte mich vor.

Und ich…
ich schwieg nicht.

Ich lernte heute drei von ihnen kennen.
Drei, die ihren Platz in dieser Gemeinschaft gefunden haben.
Oder ihn sich geschaffen haben.

Jonathan Pique.
Seine Erscheinung – ein Mosaik aus Verfall und Präzision.
Seine Haut, genagelt, gesichert.
Seine Augen – blassweiß, aber wach.
Er sah mich an, als wäre ich ein alchemistisches Rätsel.
Keine Feindseligkeit.
Nur Analyse.
Ich erkenne das.
Weil ich es selbst oft getan habe.

Lynantia.
Elfisch.
Konserviert.
Eine Erscheinung, die wenig Preis gibt.
Aber sie sprach mich an – mit einer Selbstverständlichkeit, die mich überraschte.
Kein Hinterfragen.
Nur Präsenz.
Sie bezeichnete den Raum als Bureau.
Ein sachliches Wort.
Aber in ihrem Ton lag ein Hauch von Einladung.

Und Lyndrail.
Meine alte Waffenschwester.
Rotes Haar, wie in Erinnerung.
Schärfer, gezeichneter.
Aber sie war es.

Wir sahen uns an – und etwas in mir lockerte sich.
Nicht Schmerz.
Nicht Schuld.
Nur… Verbundenheit.

Ich hatte vergessen, wie das ist.
Sich zu erinnern, ohne zu zerbrechen.

Ich sprach wenig.
Aber genug, um dazuzugehören.

Ich bin müde.
Aber nicht erschöpft.

Ich bin vorsichtig.
Aber nicht verschlossen.

Das alles ist neu. Ungewohnt.


Schattenleid legte die Feder beiseite. Ihre Finger ruhten noch auf dem Rand des Buches. Draußen im Gang hörte man gedämpfte Schritte – ein Diener, ein Wachposten, vielleicht auch nur das (Un)Leben.

Sie blieb sitzen.
Und atmete.

Heute war kein Kampf gewesen.
Und doch fühlte es sich an wie ein Sieg.

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⟡ Siebter Eintrag – „Zwischen Erde und Erinnerung“

„Ich bin es gewohnt, zu verschwinden. Mich zu fügen, zu vollstrecken, zu vergessen. Aber heute… habe ich etwas aufgehoben, statt es zu beseitigen.“

Tag drei.

Ich verließ das Gasthaus, ohne Ziel.
Nicht aus Flucht.
Aber aus Bedürfnis.
Nach Raum. Nach Abstand. Nach mir selbst.

Die Wälder westlich von Neu-Brill empfingen mich wie ein altes Lied – rau, kalt, vertraut.
Stumme Krähen. Feuchter Tau.
Und alte Pfade, die niemand mehr benennt.

Ich ging.
Lautlos.
Ohne Eile.
Meine Stiefel auf morschem Laub, meine Gedanken auf noch morscheren Erinnerungen.

Nahe des Stillwassertümpels sah ich ihn.
Den Orc vom Vortag.
Unruhig. Suchend.
Aber mit einer Bedächtigkeit, die mir fremd war.
Ich beobachtete. Lange.
Er sah mich nicht. Oder tat zumindest so.

Dann wendete ich mich ab.
Am Wasser hielt ich inne.
Mein Spiegelbild im Tümpel: verzerrt.
Ich fuhr mit dem Arm über mein Gesicht. Nicht zur Reinigung – sondern aus Reflex.
Wie etwas, das sich lösen muss.

Tag fünf.

Ich saß auf einer halb versunkenen Mauer.
Nicht versteckt – aber doch außerhalb.
Sah zu, wie gebaut wurde.
Nicht zerstört.
Nicht getötet.
Gebaut.

Verlassene mit amputierten Gliedmaßen, mit Nähten, mit Holzbeinen.
Aber keiner von ihnen brach zusammen.
Sie hoben. Stemmen. Richteten auf.

Ich fragte einen, warum es so lange dauere.
Nicht als Vorwurf.
Nur als Frage.

Er war misstrauisch.
Er sprach von morschem Grund.
Von faulenden Fundamenten.
Von Erhalt und Aufbau zugleich.

Ich bot Hilfe an.
Er lachte.
Zweifelte.
Doch dann… nickte er.

Und ich arbeitete.
Nicht gut. Nicht präzise.
Aber mit Wille.
Stein. Mörtel. Riss.
Meine Hände wurden schmutzig – anders als im Kampf.

Sie spotteten. Erst.
Dann gaben sie Anweisungen.
Und dann: Anerkennung.

Ich blieb.
Lernte.
Tat, was sie taten.

Später half ich den Köchen.
Brachte den Bauarbeitern Essen.
Eintopf. Alchemistisch angepasstes Fleisch.
Angeblich soll es sogar Verlassenen Geschmack bieten.

Es ist noch ungewohnt, Teil dieser Stadt zu sein.
Teil des Korpus V.
Als würde ich einen Mantel tragen, der noch nicht ganz nach mir riecht.
Aber mit jedem Tag, jedem Blick, jedem Wort –
scheint er ein wenig besser zu passen.
Und manchmal…
fühlt es sich an,
als würde ich wirklich ankommen.


Die Tinte auf dem Papier dunkelte leicht nach. Schattenleid betrachtete die Zeilen, während ihr Blick sich zwischen Buch und Tür verlor.

Heute hatte sie nicht getötet.
Nicht verhört.
Nicht beschattet.

Heute hatte sie getragen.
Gereicht.
Gehört.

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ooC: Heute muss ich Inkognito posten - meine Schurkin(en) dürfen nicht.

⟡ Achter Eintrag – „Die Ruhe im Schatten“

„Ich habe gelernt, zu beobachten. Nicht zu werten. Und doch – manchmal liegt die Wahrheit nicht im, was gesagt wird, sondern im Zögern davor.“

Neu-Brill, Abend nach der Ermittlung.

Ich war mit einer Wache auf Patrouille, als ich sie sah.
Lynantia.
Und mit ihr: Vesma DeVitte, Charon Maloret, Thoranim von Rodenau.
KORPUS V.
Versammelt in Todesend.

Ich trat hinzu, salutierte – eine alte Geste, nicht vergessen.
Sie nahmen mich auf, ohne Fragen. Ohne Zweifel.
Das genügte.

Lynantia reichte mir den Bericht.
Die Kapelle: verwüstet durch heilige Magie.
Ein verkohlter Leichnam.
Eine Priesterin - Annabel Voigt - aufgeschlitzt, die Wirbelsäule gespalten, eingefroren von etwas…
Unheiligem.
Etwas Runenverändertem.

Ich las. Schnell. Still.
Ging zurück in meine Rolle.
Die Beobachterin.

Wir brachen auf.
Das Calston-Anwesen - ein Ort in der Dämmerung, in der nichts zufällig erschien.
Schüler im Hof. Novizen in Roben.
Gesichter, die zu lernen versuchten, nicht zu erinnern.

Ich hielt mich zurück.
Ein paar Schritte hinter den anderen.
Ein Auge auf Bruder Arnold.
Ein anderes auf das Paar abseits, den Gärtner im Dunkel.

Als das Verhör begann, schob ich mich näher.
Langsam. Wachsam.
Keine Drohung. Nur Präsenz.

Ich fragte Lynantia, ob unsere Methoden… zurückhaltend seien.
Sie verneinte.
Ich akzeptierte.
Doch in mir blieb die Frage.
Wenn man Wahrheit will – darf man sie nicht nur erbitten.

Ich sagte nichts weiter.
Aber ich positionierte mich neu.
So, dass ich alles im Blick hatte.
So, dass ich bereit war.

Bruder Arnold…
Er sprach langsam.
Zu langsam.
Nicht wie jemand, der nichts wusste.
Sondern wie jemand, der wusste, was er nicht sagen wollte.

Ich murmelte es – kaum hörbar.
Und doch: Die Wahrheit beginnt oft mit einem Flüstern.

Thoranim lehnte härtere Maßnahmen ab.
Ich widersprach nicht.
Ich stellte fest.

Ein analytisches Verhör hätte mehr zutage gefördert.
Ein Muster, ein Widerspruch, eine Lücke im Atem.

Doch selbst Zurückhaltung kann Wirkung entfalten, wenn sie klug gesetzt wird.

Ich schwieg. Beobachtete weiter.
Später, als Thoranim sprach – mit sicherer Stimme, mit einem imponierendem Selbstbewusstsein – musste ich fast schmunzeln.
Nicht spöttisch. Anerkennend.

Ich sagte wenig.
Aber ich war da.
Und manchmal…
reicht das.


Schattenleid schloss das Buch langsam, der Kerzenschein flackerte über die noch feuchte Tinte. Ihre Finger blieben einen Moment auf der letzten Zeile ruhen – als wolle sie sicherstellen, dass das Geschehene nicht nur erinnert, sondern verstanden wurde.

Nicht alles, was gesagt wurde, war wahr.
Aber alles, was geschwiegen wurde, hatte Bedeutung.

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⟡ Neunter Eintrag – „Die Stille des Übergangs“

„Es ist eine seltsame Kunst, die Ruhe zu ertragen. Und doch fällt es mir zunehmend leichter.“

Neu-Brill. Die Sonne kletterte nur zögerlich über die verbrannten Wälder, warf lange, blasse Schatten über die Trümmer der Stadt. Ein Morgen, der nach Asche roch und nach dem schwachen Puls des Neubeginns. Schattenleid saß auf den Überresten einer Mauer, die einst eine Befestigung gewesen war, nun aber nur noch ein zerbrochener Zahn in der Landschaft. Ihr Tagebuch lag aufgeschlagen auf ihren Knien, die Feder ruhte zwischen den Fingern. Neben ihr, auf dem kalten Stein, lag ein offener Brief. Das Siegel der Apothekervereinigung war zerbrochen.

Die Geräusche von Neu-Brill waren gedämpft. Ein Hämmern hier, ein fernes Rufen dort. Händler gingen ihrem Handwerk nach. Ihre Stimmen klangen beinahe alltäglich. Untote bewegten sich zwischen Marktständen. Das Gebäude, an dem Schattenleid vor einigen Tagen mitgeholfen hatte, wuchs Stein auf Stein, langsam, aber stetig aus dem Boden empor.

Der Blick wanderte über die Pfade vor der Stadt. Einige Tage war Shaine fort. Spurlos. Es gab kein Abschiedswort, keine Nachricht über seine Rückkehr.

Der offene Brief neben ihr lag da. Die Apothekervereinigung hatte sich gemeldet. Eine Einladung – oder ein Befehl. Zum Grabmal sollte sie in zwei Tagen erscheinen. Ein Experiment. Ihre Unterstützung wurde erwartet.

Eine leise Bewegung im Blickfeld. Besucher aus dem Silberwald. Ebenfalls Verlassene, ihre Bewegungen langsam, aber zielstrebig. Ein kurzes Nicken, ein unpersönlicher Gruß wechselte die Richtung.


Der Tag verstreicht in Neu-Brill. Die Stille hier ist… ungewohnt. Nicht die Stille des Todes, sondern eine des Wartens. Ein Ausharren. Fast fühlt es sich an wie ein Atemzug. Obwohl wir ja nicht atmen.

(Kritzelei: Eine kleine, skizzenhafte Windrose, die in keine klare Richtung zeigt.)

Das Treiben der Händler. Das Klopfen der Hämmer an den neuen Mauern. Sie errichten etwas. Langsam. Unermüdlich. Ich verstehe es nicht ganz, dieses Fieber des Aufbauens. Aber ich war Teil davon. Meine Hände haben Stein geschleppt. Eine merkwürdige Arbeit für jemanden, dessen Hände einst für andere Zwecke geschult wurden.

Shaine ist fort. Verschwunden. Wie so viele. Ist das das Los der Verlassenen? Immer ein Schatten, der geht und nicht spricht? Ob er zurückkehren wird? Ich weiß es nicht. Es ist keine Frage, die ich beantworten kann. Auch keine, die mich quälen sollte. Doch sie existiert.

(Am Rand: Ein sehr grober, dunkler Schattenriss einer Gestalt, die im Nebel verschwindet.)

Der Brief der Apothekervereinigung. Sie rufen mich. Zum Grabmal. In zwei Tagen. Ein Experiment. Meine Gegenwart wird gewünscht. Befohlen. Ich werde gehen. Es ist klar. Die Pflicht. Und die Neugier. Immer diese Neugier. Was werden sie finden? Was werden sie zerstören, um es zu entdecken?

Ich werde Lynantia und Lyndrail Kenntnis geben. Man tut das so, sagte man mir. Ein Wort, um meine Abwesenheit zu markieren. Ein kleiner Faden, der mich an das Geflecht des Korpus V bindet. Es ist neu, diese Notwendigkeit. Diese… Bindung. Es ist keine Fessel, nicht mehr. Aber auch keine gänzliche Freiheit.

(Untere Ecke: Ein kleines, zerbrochenes Zahnrad, das nicht mehr ineinandergreift.)


Schattenleid schloss das Buch langsam und beobachtete weiter.

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