Braemyr erhob sich langsam, die letzten Fetzen des Traums noch immer vor seinen Augen tanzend. Das Gefühl des Erlebten war so intensiv gewesen, dass er nicht sicher war, ob es wirklich nur ein Traum war. Die Bilder von schroffen Berghängen, phantastischen Flügen und der uralten Schmiede verblassten langsam, aber hinterließen eine seltsame Resonanz in seinem Inneren.
Mit einem leisen Stöhnen stand er auf, wischte sich den Schlaf aus den Augen und blickte sich in seiner bescheidenen Schmiedewerkstatt um. Alles schien wie gewohnt. Das Feuer war über Nacht erloschen und die Asche lag kalt und grau in der Esse. Auf dem Amboss thronte noch immer die Schulterplatte eines Wachsoldaten. Eigentlich eine einfache Reparatur und ein paar Ausbesserungsarbeiten, doch dringend genug, dass Braemyr überhaupt erst bis spät in die Nacht daran arbeitete und anschließend in der Schmiedewerkstatt schlief. Der Zwerg rann sich mit den Fingern durch den dichten Bart und entschloss, die Schmiedewerkstatt heute geschlossen zu lassen. Er nahm das Werkstück vom Amboss, schloss hinter sich die Tür ab und machte sich auf den Heimweg.
Einen Zwischenhalt wollte er im Militärviertel einlegen, um dort die Schulterplatte abzugeben. Den Lohn für seine Arbeit hatte er bereits erhalten, was nicht unbedingt üblich war, doch dem Wachsoldaten war die Fertigstellung so wichtig gewesen, dass er schon im Voraus zahlte. Braemyr blieb stehen und warf einen Blick auf die große Schmiede im Zentrum des Berges. Sie war das erste, das die Zwerge längst vergangener Zeiten bauten, als sie sich hier im Berg niederließen. Nach und nach entstand die weitere Stadt um die Schmiede herum. Er dachte darüber nach, welch Meisterwerke der Schmiedekunst bereits aus diesem Ort hervorgingen. Für einen flüchtigen Moment fiel ihm die Schmiede aus seinem Traum wieder ein, doch um sich nicht in Tagträumereien zu verfangen, setzte er seinen Weg fort. Dem Wachsoldat war seine Freude deutlich anzusehen, als Braemyr ihm die Schulterplatte übergab. Noch rechtzeitig zu seinem Dienstantritt, ist sie fertig geworden. Der Hauptmann des Militärs scheint keine Gnade bei unvollständigen Rüstungen zu kennen und bevor der Soldat zum Polieren jener der ganzen Einheit verdonnert wird, zahlte er den Aufschlag an den Schmied gern. Er bedankte sich vielfach bei Braemyr, während sie noch ein Stück gemeinsam liefen. Am Klanhaus der Steinkeile trennten sich jedoch ihre Wege.
Einige Tage vergingen und alles nahm seinen gewohnten Gang. Jedoch verging kein Tag, ohne dass Braemyr über die Bedeutung seines Traums nachsann. Pfeiferauchend stand er auf dem Balkon des Klanhauses und warf einen Blick auf die Gasse. Überall regte sich die bunte Gesellschaft der Zwerge, die ihrem Tagwerk nachgingen und Handel trieben. Vielfältig und doch eins. Noch vor wenigen Jahren wäre es kaum vorstellbar gewesen, dass die Zwerge der drei großen Klans hier im Berg friedlich miteinander auskommen. Und doch stehen die Zwerge, vertreten durch den Rat der drei Hämmer, nun Seite an Seite.
Dünne Fäden blaugrauen Rauchs zogen aus dem Pfeifenkopf über die Brüstung. Braemyr brummte sacht und warf einen flüchten Blick aus den Augenwinkeln zur Seite. Neben ihn trat ein weiterer Zwerg. Brogar, ein Mitglied des kleinen Klans, gesellte sich zu ihm auf den Balkon, in seiner Hand eine Schüssel warmen Pilzeintopfes. „Oi, Braemyr! Hast du schon von dem Eintopf probiert? Ist nicht mehr viel da. Also falls du noch was essen wolltest, würde ich jetzt zuschlagen!“ Braemyr sah seinen Kameraden an und gluckste sacht. „Was denkst du, warum nicht mehr viel da ist? Ich hab schon drei Schüsseln verputzt.“ Er nahm die Pfeife aus dem Mund, blies einen Schwall Rauch aus und grinste Brogar breit an. Dann deutete er mit dem Mundstück der Pfeife hinunter auf die Gasse.
„Was siehst du dort, Brogar?“ Brogar vergrub einen Löffel Eintopf in seinem Mund und schaute hinunter. Etwas von der Suppe rann an seinen Mundwinkeln herab und versickerte im dichten schwarzen Bart. „Hrm. Handwerker der Bronzebärte, oh, da auch einige unserer Leute. Einige Wildhämmer, sicher auf dem Weg zur Brauerei oder in die Taverne, und Dunkeleisen, die einem sicher versuchen irgendwelche zwielichtigen Dinge aufzuschwatzen.“ Er sah Braemyr daraufhin fragend an, als wäre an dem Treiben auf der Gasse etwas Ungewöhnliches zu beobachten, was ihm entgangen war. Dieser wiederum nickte sacht. „Du hast nicht ganz unrecht, Brogar. Ich sehe da unten Zwerge. Sicher, sie sind von ihrer Art her sehr unterschiedlich und wir haben mitunter unsere Differenzen miteinander. Und doch sind sie alle eins: Zwerge. Wir alle kamen aus diesem Berg und in ihm finden wir wieder zusammen.“ Brogar lachte laut und verlor fast die Schüssel aus der Hand. „Schon ganz der Diplomat, aye?“ Er klopfte Braemyr auf die Schulter und grinste. „Na, du wirst dich in deiner neuen Rolle schon zurechtfinden. Übrigens, wenn du keinen Eintopf mehr willst, dann solltest du langsam los, oder nicht? Schließlich wartet der Rat auf sein neuestes Mitglied.“ Braemyr brummte zufrieden und nickte Brogar aufmerksam zu, ehe er sich auf den Weg zum Bürgerrat machte.