Der Tag begann für Annelie damit, die beiden jungen Dienstmädchen aus dem Bett zu werfen, die in der Hausküche halfen. Das tat sie, seitdem sie auf dem Gut war jeden Morgen, denn sie hatte schnell einen guten, freundschaftlichen, gar etwas schwesterlichen Draht zu den Beiden aufgebaut. Anders als das alte Fräulein Addams, die den beiden eher schroff über die Schultern blickte. „Das junge Volk wusste schließlich nicht mehr, was ehrliche, gründliche Arbeit ist.“. Oder Fräulein Grünweide, die stets etwas eingebildet daherkam, als würde sie sich für etwas besseres halten. So war der Begriff „aus dem Bett werfen“, etwas fehl am Platze. Annelie tat es mit Sanftmut und Herzlichkeit, ohne zu verhätscheln.
Als sie in die Stube der Mädchen kam, brannte zu ihrer Überraschung auf einem der Nachttische schon eine Kerze. Ein Mädchen lag etwas gekrümmt auf ihrer Bettdecke und hob den Kopf mit einem leicht unangenehmen Gesichtsausdruck in Richtung Annelie. Diese wiederum schaute fragend drein und fragte im Flüsterton: „Guten Morgen, Elena. Alles in Ordnung?“. Beiläufig ging sie zum noch schlafenden Mädchen, um sie mit einer behutsamen Berührung ihrer Hand auf deren Schulter aus dem Schlaf zu holen. Ihr Blick lag noch auf Elena, die den Kopf schüttelte. Derweil regte es sich unter der anderen Bettdecke und Annelies Lippen verließ ein weiteres „Guten Morgen, Mathilda.“ Müde Augen und lächelnde Lippen drehten sich zu ihr, ein gehauchtes „Guten Morgen, Anne.“ erwidernd, ehe Mathilda sich über die Augen rieb.
Schließlich ging Annelie herüber zu Elena, sich auf die Kante ihres Bettes setzend. „Was ist denn?“, wollte sie nun wissen. „Ich habe seit gestern Abend Schmerzen. Dort. Es… zieht und drückt.“ Elenas Hand legte sich mittig auf ihren Unterleib. Dahin deutend, wo es ihr schmerzte. „Dolle? Ist dir übel?“, wollte Annelie wissen, welcher ein verneinendes Kopfschütteln entgegengebracht wurde. „Mach dir etwas Tee aus Friedensblume. Ich habe eine sachte Vermutung. Wie alt bist du noch gleich?“, fragte Annelie. „13.“, brachte Elena ihr entgegen und Annelie nickte sachte. Ein Blick über die Schulter zu Mathilda, dann wandte sie sich Elena wieder zu. „Geh später zu Doktor Goldwacht. Sie wird dir mehr sagen können.“, trat sie weitere Erklärungen an die Frau von Fach ab.
Als die Mädchen schließlich dienstfertig waren, die eine fideler, die andere etwas versteift, ging Annelie zur nächsten Tür, hinter der eine nächste Aufgabe lag. Sie wollte heute nach Sturmwind auf den Markt fahren und wollte die Warenlinie in die Stadt erwischen. Doch zuvor holte sie noch einen ganzen Stapel Briefe, teils in identischen Umschlägen bei Dame Seoni ab, die sie behutsam in einer Umhängetasche verstaute auf dass die Schreiben nicht zerknitterten. Dann machte sie sich auf vor die Tore. Auf dem Weg dorthin begegnete sie ein paar Bewohnern des Gutes, denen sie allen ein freundliches Lächeln und einen morgendlichen Gruß entgegenbrachte.
Bereits aus etwas Distanz hob sie winkend die Hände, als sie beim Wagen für die Linie nach Sturmwind ankam. „He! Guten Mooorgen!“, rief es den Arbeitern und Grenzern fröhlich entgegen. „Ha, Fräulein Annelie. Ihr beehrt uns erneut auf dem Weg in die Stadt?“, entgegnete einer der Männer munter. „So ist es. Der Markt will besucht werden und Dame Seoni hat mich mit einem diplomatischen Botengang betraut.“, erklärte sie und schwang sich agil auf die Ladefläche eines bepackten Karrens, dabei sämtliche Zuckungen von Männern, die im Begriff waren ihr mit einer Räuberleiter zu helfen, ignorierend.
Der Weg in die Stadt verlief wie zuletzt auch ereignisarm. Annelie verbrachte die Dauer der Fahrt damit leise Lieder zu summen, oder ein paar Zeilen in ein kleines Büchlein zu schreiben. Ob der holprigen Straße gelang das manchmal weniger fein. Aber es wirkte nicht, als würde sie offizielle Schreiben aufsetzen. Immer mal wieder ging ein behütender Blick hinauf zur Magd auf dem Wagen. Diese wiederum legte ihren Blick oft in die Baumkronen, durch die die Sonnenstrahlen schienen und ihr die Nase kitzelten. Zwischen dem Gut und Goldhain fiel ihr dann etwas auf. Karrenspuren führten Abseits des Weges in den Wald. Mehrere Fußstapfen und Hufe ebenso. Wo die Grenzer unbedenklich schienen, rief es Annelie die Worte Herrn Riordans ins Gedächtnis, der Probleme mit einer Weinlieferung erwähnte. Ob es ein Zusammenhang gab? Sie entschied sich dafür vorerst zu schweigen und gegebenenfalls später dem Herren selbst davon zu berichten…
Schon als die Geräuschkulisse der Stadt hörbar wurde und der Verkehr auf der Straße dichter, holte Annelie die Umschläge von Seoni hervor, die alle ein gleiches Aussehen hatten. Nur eben mit anderen Adressaten versehen. Sie kannte die Stadt nicht in und auswendig, versuchte jedoch die Adressen nach den Orten in der Stadt zu sortieren, die sie abgehen musste. Dies wollte sie zuerst erledigen, um sich dann ins Marktgetümmel zu werfen und mit vollen Körben zum Karren zurückzugehen.
Im Laufe des Vormittags wurde sie bei einigen in der Stadt ansässigen, oder zumindest dort mit einem Stadthaus vertretenen Häusern vorstellig. Den jeweils angetroffenen Personen gegenüber stellte sie sich unter Wahrung von Etikette und einer guten Ausdrucksweise vor, knickste ihres Standes gemäß und übergab die Umschläge im Namen der Dame und des Herren. Etwaige Einladungen zu verweilen würde sie entschuldigend ablehnen, denn sie hatte Aufgaben zu erledigen. Ein andermal vielleicht. Die Lage des Gutes war bekannt und anders herum würde sich sicherlich zu einem anderen Zeitpunkt an einem anderen Tag einmal die Gelegenheit ergeben, Diplomatin zu spielen, wenn die Dame Seoni oder Herr Riordan es so wollten.
Auf dem Mark herrschte regeres Treiben als an manch anderen Tagen. Immerhin ging es auf das Monatsende zu, die Leute hatten Lohn und Sold erhalten und wie bei einer Schlacht am kalten Buffet um die letzten Stücke Braten, stürzten die Leute sich auf die angebotenen Waren. Annelie war der Tumult zuwider. Sie kannte die Stände ihres Vertrauens und die Händler kannten sie. Manche waren etwas abgelegener. Bei anderen wurde sie schon in Sichtweite hergewinkt und vorgezogen.
Schließlich, pünktlich zur Abfahrt, kehrte Annelie zum Wagen zurück. Der großen Stadt ein weiteres mal den Rücken kehrend. Wohlwissend, dass es nicht lange dauern würde, bis sie wiederkehrt. Nicht, dass die große, laute und aufregende Stadt keine willkommene Abwechslung war. Doch immer wenn die Geräusche Sturmwinds verklangen und das Zwitschern der Vögel, das Rascheln im Unterholz wieder an die Ohren drang wusste sie, dass das Leben im Ländlichen das war, was ihr besser gefiel und dass sie über ihren neuen Platz in der weiten Welt glücklich war.