Die Sommersonne brannte unbarmherzig auf den westlichen Teil des Lehens. Die Luft war erfüllt von waberndem Hitzeflimmern und den ungeduldigen Rufen der Bauern, die ihre Knechte – und manchmal auch die jüngeren Töchter – zum Wasserholen abkommandierten. Oft klebten ihnen selbst die dünnen Leinenhemden am Leib, obwohl der Juni für die meisten Bauern eigentlich eine Zeit des Rastens und Kräftesammelns war. Die Feldfrüchte waren geschützt und wuchsen kräftig heran, die Ernte würde erst in einigen Monaten beginnen. Nun war die Zeit, wilde Tiere und diebisches Gesinde fernzuhalten, Schäden an den Höfen zu flicken und sich um das Vieh zu kümmern, das, anders als das Gemüse, nichts von Jahreszeiten hielt.
Ein junger Bursche von vielleicht dreizehn Sommern, der die Träger seines Hemdes verwegen um die Hüfte geschlungen hatte, in dessen Mundwinkel ein Strohhalm lag und den ein alter, breitkrempliger Schlapphut vor der schlimmsten Hitze auf dem dunklen Haarschopf schützte, hatte gerade die letzte Kalbe vom Grünweidehof über die Straße getrieben, wo sie sich an mit Friedensblumen durchsetzter Weide satt fressen konnten, als ein lautes Geräusch ihn zum Umwenden zwang.
Wie beinahe alle Bewohner von Löwenbrück, die alt genug waren, ein Messer zu halten, war auch der Junge früher oder später zur Übung der Milizen hinzugezogen worden und hatte an der Seite seines Meisters – dem jungen Bauern Grünweide – gelernt, in welche Körperregionen man mit dem langen Messer stechen musste, das der Landsherr denen erlaubte, die nicht stetig vom Schutz der Gutsmauern profitierten. Seit dem Geißelangriff gab es auf jedem Hof außerdem zwei Armbrüste und ein Kurzschwert von guter Qualität. Schon so mancher Bandit hatte eiligst die Flucht ergriffen, als die Bäuerin mit dem Bolzen im Anschlag aus der Tür getreten und dem lichtlosen Landstreicher eine Warnung ausgesprochen hatte. Natürlich waren sie eigentlich dazu angehalten, Verbrecher und Taugenichtse mit Respekt zu begegnen und sie der Garde zu übergeben, doch Wachtmeister Oxberg hatte gesagt, dass man im Eifer des Gefechts vor allem zur Erhaltung des eigenen Lebens und zum Schutz seiner Familie handeln sollte.
Der Junge war mit den anderen jüngeren Kindern beim Mittagessen mit den Gardisten zusammengesessen, die gut gelaunt die Übung abgehalten hatten und hatte mindestens ebenso dringlich auf Kriegsgeschichten gebohrt wie die anderen Kinder, auch wenn er eigentlich schon ein bisschen zu alt dafür war – immerhin hatte er bald seinen Namenstag!
Die Gardisten in ihren glänzenden Rüstungen hatten ihn tief beeindruckt. Seitdem trug auch er einen Strohhalm im Mund – gleich dem Wachtmeister – und ein Floh hatte sich in sein Ohr gesetzt, dass das Halten von Rind nichts für ihn war. Gefahr und Abenteuer schienen in seinen jungen Augen deutlich interessanter als die Aussicht auf einen Hof, eine Familie und einen eigenen Knecht, den er herumscheuchen konnte wie sein Meister ihn.
Aus diesem Grund nahm der Junge nicht Reißaus, als er ein lautes Jaulen hörte und im Busch das Rascheln primitiver Kettenglieder zu vernehmen war. Er griff an seine Hüfte, wo sich das lange Messer, mit dem er gerne lässig das Brot zum Mittagessen schnitt (besonders, wenn die junge Margaret Grünweide ihn beobachtete) befand und umschloss den Griff wie ein Revolverheld die Pistole. Die Kühe schnaubten und muhten unruhig, die Ohren der Kalben drehten sich in die unterschiedlichsten Richtungen. Und dann ging es sehr schnell.
Mit einem Auflachen – einem schrecklich kieksenden, hyänenartigem Grunzlachen – brach ein fransiger Gnoll aus dem Unterholz, einen genagelten Knüppel schwingend, der so aussah, als hätte er das Holz so lange auf Nägel eingeschlagen, bis einer von ihnen hängen geblieben war. Eine Schulter war von einer ledernen Brustplatte geschützt, den halben Körper schützte ein Kettenhemd, Machart Sturmwind, durch dessen Löcher filzige Fellbüschel ragten. Weißer, dickflüssiger Geifer tropfte von seinen Lefzen. Vielleicht ein Alpha, vielleicht ein Rudelführer.
Man hörte antwortendes Lachen um ihn herum. Der Junge dachte darüber nach, dass es eine dumme Idee war, die Kalben zu weit nach Westen zu führen, zu nahe an die Lichtschneise heran. Niemand würde ihn schreien hören, niemand seine Leiche finden, bis sie abgefressen und unkenntlich geworden war. Tränen begannen in den Augenwinkeln des Jungen aufzusteigen und er riss das Messer trotzig aus seiner Scheide, den Griff mit beiden Händen umschließend. In der Sonne, die auf die Klinge traf, spiegelte sie sich hell, gar so, als würde sie von heiligem Licht umwabert werden. Es sorgte dafür, dass der Gnoll kurz in seinem Ansturm innehielt. Das rettete dem mutigen Jungen das Leben.
Hinter ihm schlug eine Kalbe mit den Hufen aus und schickte einen Gnoll zu Boden. Vor ihm sauste ein Pfeil durchs Unterholz und bohrte sich in das Hinterbein eines anderen Tieres, das einen schmerzerfüllten Laut aufstieß. Bewegung kam in die Tiere, die in rasantem Tempo ihr massives Gewicht gegen die Gnolle einsetzten, um in einer Stampede gen Waldrand zu verschwinden. Es schaffte genug Aufruhr, dass das Nächste, was der Junge hörte, war, wie ein Pferd von offenbar signifikantem Gewicht die Kieselsteine der Straße unter seinen beschlagenen Hufen zermalmte.
Während der Gnoll sich für einige Sekunden nicht zwischen dem reflektierendem Stachel des Jungen und seiner entfliehenden Beute entscheiden konnte, durchschlug ein Koloss an Stahl und Klinge die Spannung zwischen Biest und Kind. Mit großen Augen stolperte der Junge zurück, als der Reiter sein Ross ohne Rücksicht auf Verluste zwischen die beiden trieb und die Sonne sich statt auf dem Messer, das vergessen ins Gras gerutscht war, auf einem stählernen Harnisch brach. In vollstem Ritt bremste das Geschoss aus Eisen, das Pferd beinahe auf einer Münze manövrierend. Pferdeschweif und Umhang des Mannes peitschten beinahe perfekt synchron in einem Halbkreis der Wenderichtung hinterher.
Der Mausfalbe war gewaltig: Ein Pferd von so breiter Brust und derart breitem Hinterteil, dass er die Straße auch ohne seinen leichten Harnisch ganz für sich beanspruchte. Die Mähne war kurz geschoren, damit sich niemand daran festhalten konnte, der Schwanz geflochten. Verziert war das Schlachtross auf derartige Weise, dass man meinen konnte, der Reiter wolle jemandem die Aufmachung machen.
Auf dem Rücken des prächtigen Tieres saß eine breite Gestalt, gehüllt in die Farben Sturmwinds. Wo der Stahl nicht in der Sonne funkelte, wogten Stoffbahnen aus Blau. Das Schwert war gezogen, schon als der Mann zwischen die beiden ‚Kämpfenden‘ fuhr und mit einer geschickten Drehung der Arme, die der Junge noch Wochen danach an Baumstümpfen und mit Stöcken gegen die anderen Knechte üben würde, trennte der Reiter in einer einzigen, anstürmenden Bewegung den Kopf des Gnolls von seinen Schultern.
Sofort nahm das Pferd den Rest des Schwungs und wurde langsamer, trabend, bis es neben dem ins Gras gestürzten Jungen stehen blieb. Gütige schwarze Augen drehten sich einen Moment in seine Richtung, als wollte das Tier selbst für sein Wohlergehen garantieren. Dann schob sich eine Panzerfaust in sein Sichtfeld.
Der Mann hing, die Klinge im Bremsen gescheidet, halb von seinem Tier, um ihm aufzuhelfen. An der Schulter fiel in blauen Wogen der Umhang herab und gab ihm in den Augen des Knechts ein noch heldenhafteres Aussehen – als wäre ein Streiter des Lichts höchstselbst vor ihm erschienen.
Die Augen des Mannes hatten dieselbe Farbe wie der Umhang – sturmwindblau. Als würde durch seine Adern dasselbe Material fließen, wie er stolz an Rüstung und Ross zur Schau stellte. Die Augen waren von dichten, grauen Brauen bewachsen und gütig, ganz im Gegensatz zum verhärmten, narbigem Rest des Gesichts, in dem ein buschiger, dunkelgrauer Bart prangte. Das ebenso ergraute Haar fiel zu beiden Seiten die Wangen herab – der Helm hing am Sattel – und er trug Dienstabzeichen auf der Brust, mit denen der Junge nichts anfangen konnte. Stattdessen griff er nach dem Arm, der ihn kraftvoll auf die Beine zog.
Als der Mann sich aufrichtete, konnte der Junge einen Blick auf den Wappenrock werfen. In blau und gold geteilt sah er eine goldene Traube und einen blauen Greifenfuß. Das kannte er. Das kannte jedes Kind und jeder Erwachsene in Löwenbrück, hing es doch zu Turnieren glücksbringend von den Eingangstüren der Häuser und den Mauern des Gutsgeländes. „Ihr seid …“
„Keine Zeit zu verlieren, Junge. Steig auf, mach es dir auf meinem Gepäck bequem. Wir müssen deinem Meister von den entflohenen Kühen berichten und diesem Gnollnest ein Ende setzen, bevor sie hier noch ein Zuhause finden. Weißt du, wo das nächste Gardehaus ist?“
„An der Brücke, Sir … Seid Ihr …“
„Ich setze dich kurz vorher ab.“
Ohne ein weiteres Wort zog er den Jungen, der wusste, wann er schweigen musste, auf das Pferd. Den kopflosen Gnollkörper ließ er links liegen. Der von der Sonne ausgetrocknete Straßenkies würde das Blut der Bestie gierig trinken. Auf dem Weg verlor der Junge den Strohhalm, auf dem er die ganze Zeit vor Angst gebissen hatte. Als würde er ihm Kraft und Schutz spenden.
Nun war er ihm egal.