Blick ins Ungewisse
Nach dem Aufstehen und Waschen tritt die Soldatin, sich ankleidend, ruhelos im Raum umher. Vom Kleiderschrank wieder zum Bett und schließlich, ausreichend bedeckt, auch zum Fenster. Der Blick des Einauges schweift über die noch ruhigen, verschlafenen Straßen und Gassen der Altstadt. Es war wohl normal, wenn einen die Vergangenheit, das jüngst erlebte, verfolgte und sich wieder und wieder vor dem inneren Auge abspielte - wo doch ein echtes Auge verloren ging.
Die Finger der Magierin greifen nach der ledernen Augenklappe, die sie sich missmutig brummend anlegt. Das Auge… das Auge, welches ihr im Kampf ausgestochen wurde. Wie hatte es dazu kommen können? Schwarzmagier, Hexenmeister? Finstere Gestalten, die als Dämonologen mit gleichsam verderbter Gesellschaft Bürger, gar Kinder, und auch einen Wachsoldaten entführt hatten. Rasch waren Pläne geschmiedet worden, einer wurde durchgeführt. Doch ging er so auf, wie es beabsichtigt war?
Die Magierin seufzt und wirft sich auch ihre Jacke über. Hätten sie mehr tun können? Wäre es möglich gewesen, Material statt Mannstärke zu opfern? „Nein.“ denkt sie bei sich. Jeder weitere Tag des Fortbestehens der Entführung hätte eine größere Gefahr für den Gesundheitszustand der Entführten bedeutet. Sie hatte einen Eid geschworen - eine Pflicht zu leisten. Und das bedeutet, auch das eigene Leben zu riskieren, um Volk und Kameraden zu schützen. Und sei es auch auf Kosten der Sehkraft.
Die Magierin greift nach ihrem Waffengurt. Ohne würde sie nicht hinausgehen. Nicht jedes Problem benötigt Magie, bei manchen reicht auch ein Schwert. Wobei es doch auch ein solches war, welches ihr das Auge kostete.
Die blauhaarige Magierin verlässt ihr Wohnhaus und wendet sich den Gassen der Altstadt zu. Hier war es wohl, wo Linnja entführt worden war. Linnja… die sie freigekämpft hatte. Sie hatte sich erholt. War im Stande, die körperlichen Wunden zu heilen, doch ein Auge, wie Aryanna es verlor, lässt sich nicht wiederherstellen.
Mittlerweile erinnert am Ort der Entführung nichts mehr daran, was dort geschah. Selbst im Wald, wo erbitterte Kämpfe stattfanden, absichtlich weitab der städtischen Infrastruktur, ist wortwörtlich „Gras über die Sache gewachsen“.
Und die Opfer? Immerhin. Immerhin etwas, was ihr ein kurzes Lächeln über das Gesicht laufen lässt. Die Entführungsopfer des Hexers, allen voran zwei Kinder, wurden durch die Aktion ihrer eigenen Kameraden aus dem Kellerverlies des Hexers gerettet, obgleich dies bei den unzähligen vorigen Opfern nicht mehr möglich war. Die einzige Gewissheit, die nun bleibt, ist, dass der Hexer nie wieder jemandem Schaden beifügen konnte: Der Tod durch das Fallbeil ist endgültig.
Hätte er ein anderes Urteil "verdient" gehabt? Nicht, dass es in ihrer Macht läge, darüber zu bestimmen. Doch der schnelle, rasche Tod könnte fast zu barmherzig für jemanden sein, der über so viele Wesen so viel Leid gebracht hat. Gleichzeitig ist er lebendig immerzu eine Gefahr gewesen. Es ist wie so oft bei dieser Arbeit: Es gibt kein Richtig, es gibt kein Falsch. Es gibt nur den Weg des Handelns nach bestem Wissen und Gewissen.
Aryanna strafft ihre Schultern und richtet den Blick des einen Auges auf die Straße vor ihr. Es lag noch viel Weg vor ihr, trotz ihrer kürzlichen Beförderung in den Dienstgrad eines Hauptgefreiten der Stadtwache von Sturmwind. Denn ganz gleich, in welchem Rang sie dient, wie schwer sie verwundet würde oder was das Leben sonst für sie bereit hielt: Die Arbeit als Stadtwache, ihre Arbeit, die Arbeit zum Schutz der Wesen in Sturmwind, würde niemals enden. Das ist die einzige Gewissheit, die die Zukunft bereits jetzt für Stadtwächter bereit hält; sie mögen auch in Besetzung wechseln, sie mögen neue Namen tragen und alte Gesichter, doch es wird sie immer geben. Und in dieser Zeit leistet auch Aryanna ihren Beitrag dazu. Ganz gleich, was es sie kosten möge.