Draußen zog einer der ersten Stürme des neuen Jahres über die Lichtung und eine dicke, schwarzgraue Wolkendecke schluckte das Licht der Morgendämmerung beinahe vollständig. Nur das gedämpfte Glimmen der Restglut im offenen Ofen durchbrach das Dunkel im Inneren der kleinen Hütte.
Luthien saß halb aufgerichtet auf ihrem Lager und lehnte gegen den hohen, hölzernen Rahmen der Bettstatt. Von den ausgestreckten Fingern ihrer Hand hing eine fein gearbeitete Echtsilberkette herab, an deren Ende ein Anhänger baumelte. Gedankenverloren hing ihr Blick an der perfekten schwarzen Perle und dem sachten grünlichen Schimmer in ihrem Innern.
Die Ereignisse und Gespräche der letzten Wochen und Monde wanderten in unbeständigen Bahnen durch ihren Geist. Nur langsam hatte sie sich von den Nachwirkungen der Begegnung mit der Nagahexe erholt und generell war die Einheit in diesem Krieg beinahe aufgerieben worden. Eine gefühlte Ewigkeit hatten sie nurmehr ihre Wunden geleckt, während die wenigen einsatzfähigen Kräfte, zusammen mit anderen Kaldorei, Aufgaben in den befreiten Gebieten nachgingen.
Das große Regenfest im Hyjal hatte sich wie ein Befreiungsschlag angefühlt und langsam schien das Leben zurück in ihr Volk zu fließen. Die Dunkelküste kämpfte noch immer mit Problemen, doch im Eschental sammelten sich mehr und mehr Kaldorei rund um Astranaar, um sich dem Wiederaufbau zu widmen. Der Ansatz eines Lächelns huschte um ihre Mundwinkel, als sie an das Mondfest dachte. Der Mut, die Hoffnung und die Aufbruchstimmung, die überall spürbar gewesen war, hatte ihrer Seele wohl getan.
Auch für die Einheit hatte der Wiederaufbau begonnen. Bei der letzten Zusammenkunft gab es erste Neuzugänge. Bekannte, wie unbekannte Gesichter hatten sich der Gruppe angeschlossen. Zudem gab es den Entschluss sich, wegen dem vorherrschenden Mangel an erfahrenen Kräften, verstärkt selbst um die Ausbildung zu bemühen. Die Zeichen standen allgemein auf Wandel, und das war gut so.
Die Kaldorei waren immer noch verstreut, viele hatten den Mut verloren oder waren dem Zorn und Rachegelüsten anheim gefallen. Sie mussten zusammenhalten und sich gegenseitig unterstützen, wenn sie überleben wollten und…sie mussten ihre Kräfte bündeln. In ein paar Nächten würde deshalb eine kleine Delegation des Smaragdzirkel in die östlichen Königreiche aufbrechen, um dort nach jenen Ausschau zu halten, die noch dort verweilten und willens waren, im Dienste des cenarischen Zirkel einen Neuanfang zu wagen.
Luthien tat einen tiefen Atemzug und ihr Bewusstsein kehrte zu dem Anhänger und dem sanften Schimmern in seinem Inneren zurück. Bahnte sich womöglich auch für sie selbst ein Neuanfang an? Nach all den Jahren der Suche nach Hinweisen und Antworten, schien es nun, als habe die Lösung tatsächlich direkt vor ihrer Nase gelegen. Sie hielt sie buchstäblich in Händen. Warum nur, war sie nicht schon früher darauf gekommen? Wenn sich ihre Vermutung bestätigte und es sich tatsächlich so verhielt, wie Shan’do Seelenspiegel es ihr erläuterte, dann hatte sie wahrlich den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen. Das Gespräch mit Sinhael hatte ihr Mut gemacht und ihre Hoffnungen befeuert, auch wenn sie wusste, dass der schwierigste Teil ihnen womöglich noch bevor stand. Der Traum konnte tückisch sein und es gab keine Garantie, dass sie Sintarion finden würden, noch, dass er mit ihnen in die Welt zurückkehrte.
Sie ließ den Anhänger noch einmal durch ihre Finger gleiten, ehe sie ihn zurück in die kleine hölzerne Schatulle legte und wieder unter die Decke schlüpfte. Mit einem wohligen Durchatmen schmiegte sie sich in die Wärme ihres Lagers und des schlafenden Körpers neben ihr. Ein letztes Mal kreisten die Gedanken um den Vater. „Wo bist du?“, murmelte sie, ehe der Schlaf sie endgültig übermannte.