Sinhael’s Augen suchten vergeblich die tiefen Wagenspuren, die eigentlich auf dem Weg hätten sein müssen. Jetzt waren da nur neue Wegsteine, die die Straße durch das Eschental wieder befahrbar machten. Vor wenigen Monaten noch, nein, schon vor einem ganzen Jahr, waren sie hier gewesen. Tiefe Rillen von schweren, hölzernen Wagenrädern. Großen Karren voller Kaldorei. In den Ohren des Druiden erklangen die längst verdrängten Geräusche:
Das schwere Schnaufen der Kodos, die alle Mühe hatten die Wägen durch den Morast zu zerren. All die Kriegswaffen, die Reittiere, die unendlich vielen Füße der Soldaten hatten den Pfad aufweichen und die Steine fortrutschen lassen. An einigen Stellen kam man gut voran, an anderen eher weniger, wieder andere waren nur mit größter Mühe zu passieren. Die Horde wusste das, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig als die Gefangenen hier entlang zu transportieren. Der Wald des Eschentals war wütend. Seine Bewohner gleichsam zornig. Für die Horde war es hier alles andere als sicher. Sinhael nahm das Surren der Irrwische wahr, die hoch in den höchsten Baumkronen herum flitzten und ihr Lied aus Zorn und Klage sangen. Viele waren es nicht mehr. Die meisten hatte die große Barriere verschlungen, die an der Dunkelküste augebaut worden war. Die Tiere versteckten sich, waren aber aufgrund ihres dezimierten Lebensraumes und der wenigen Nahrung kurz davor sich aufzubäumen. Neben dem Karren, in dem Sinhael saß, ritten Wolrgenreiter. Die breitschultrigen Orks auf den geifernden Worgen waren bis an die Zähne bewaffnet und spähten äußerst wachsam umher. Es waren, abgesehen von ihnen und den Gefangenen, nicht viele Lebende im Treck. Die Vielzahl ihrer Peiniger bestand aus Verlassenen, deren gleichmütiger, unerschöpflicher Gang wie Hohn in Sinhael’s Augen wirkte. Er selbst war nämlich unfassbar müde. Sein Kopf lehnte an der Schulter seines Bruders, dessen Kopf wiederrum auf dem von Sinhael auflag. Leahnis schlief tief und fest, weil auch er der Schwäche nicht mehr widerstehen konnte. An ihrer beider Hände, genauso wie bei allen anderen Gefangenen, rasselten eiserne Fesseln durch die eine lange Kette gezogen war, die sie miteinander und dem Karren selbst verband. Auch die Fußgelenke waren in Ketten gelegt. Es gab kein Entkommen. Nicht ohne die Macht, die den Druiden innewohnte, die ihnen bei ihrer Geburt gegeben wurde. Nicht ohne das Band zur Natur, der unerschöpflichen Quelle. Aber egal wie sehr Sinhael sich auch konzentrierte – und dabei musste er absolut vorsichtig sein, denn die Verlassenen beobachteten ihn mit Argusaugen – er spürte sie nicht. Die Pflanzenwelt bliebt seinem Ruf eine Antwort schuldig. Die Stille versetzte Sinhael einen Stich. Es war lang her gewesen, dass er sich so gefühlt hatte. Allein unter vielen. Abgekapselt, verschlossen, ausgesperrt. Die Verbindung zur Natur, die ihn mehr ausmachte als andere je wissen würden, war sein Lebenselixier, seine Hoffnung. Ohne sie spürte er, wie Mutlosigkeit sich breit machte. Vielleicht noch ein letztes Mal… vielleicht würde er noch einen allerletzten Versuch starten, um die Macht der Natur zurückzufordern. Und wenn das scheiterte, dann würde er…