Myrielle spürte die kalte morgendliche Gischt bis in die Knochen, welche der Wind Böe um Böe auf das Oberdeck der Little Bonnie trug. Dass die Bonnie noch im Hafen lag, schützte sie nur wenig vor den rauen Gezeiten der Sturmwinder Bucht.
Myrielle konnte ihre Finger nicht mehr spüren, doch nach Wochen des Trainings war das Laden der kleinen Handarmbrust ihr zur zweiten Natur geworden. Ladehebel ziehen, Bolzen einlegen, Armbrust entsichern, zwischendrin aufpassen, dass die Sehne nicht zurückschnellte - das wäre schmerzhaft.
Die Augen vor weiterer Gischt zusammenkneifend, legte sie die Armbrust mit ausgestrecktem Arm an, fasste den Sandsack ins Auge, der an einem Seil von der Takelage baumelte, und - Ka-tschunk! - ihr Bolzen schlug wie die anderen in die hölzerne Schiffswand hinter dem Ziel.
Das liegt nur am Sturm, versuchte eine innere Stimme ihr Versagen zu rechtfertigen, wie willst Du etwas treffen, wenn Du nicht einmal die Waffe in deinen Händen spüren kannst? Doch Myrielle wusste es besser - sie war ausgelaugt, unkonzentriert; Doc Clearwaters Friedensblumentee hatte sie durchschlafen lassen, doch die Träume schienen jede Erholung aus ihren nächtlichen Stunden zu saugen.
Sie griff an ihre Hüfte - noch vier Bolzen im Köcher. Myrielle spannte die Kiefer an und knurrte. Erschöpfung hin oder her, Albträume hin oder her, das war ihr Körper, und er würde auf ihren Willen hören! Sie riss die letzten Bolzen aus dem Köcher und exerzierte dieselbe Routine durch, bis ihr der Oberarm schmerzte und der Ladehebel protestierend knarrte.
Ka-Tschunk. Ka-Tschunk. Ka-Tschunk.
Alle drei Schüsse waren in die Schiffswand geschlagen. Noch einen Bolzen, dann würde sie ihre Munition einsammeln von vorne beginnen müssen.
„Warum versuchst Du es überhaupt“, murmelte sie und öffnete den Köcher, um den letzten Bolzen unverrichteter Dinge wegzupacken, als ferne Glockenschläge durch den Wind schnitten.
Gong. Und noch einmal. Gong. Gong. Gong. Gong. Gong
Die Gilneerin wandte den Kopf nach den Glockenschlägen und sah die Zinnen der Kathedrale durch den morgendlichen Nebel stechen. Goldene Sonnenstrahlen erhellten ihre Spitze.
Myrielle seufzte und lud den letzten Bolzen in die Armbrust. Na schön.
Sie hob ihre Waffe und legte auf den Sandsack an. Das durchnässte, braune Ding tanzte in der Gischtböen, als wäre ein boshafter Geist in es gefahren; der Sack wand sich stets in eine neue Richtung, wenn immer sie glaubte, ihren Schuss absetzen zu können.
Ihr Finger lag auf dem Abzug, krümmte sich aber nicht. Sie zwang ihn nicht, sondern harrte aus und entsann sich der drei Tugenden.
Ein Gebet stahl sich auf ihre tauben Lippen, das aus einem anderen Leben zu stammen schien. „Hilf meinem Respekt, zu sehen, dass vor dir alles verbunden ist. Schenk mir die Beharrlichkeit, zu bestehen im Angesicht von-“
Ka-tschunk.
Myrielle konnte sich nicht erinnern, bewusst den Abzug betätigt zu haben - doch der Bolzen flog, so unzweifelhaft, wie ihr Arm im Rückstoß brannte.
Mit unbeteiligter Faszination beobachtete sie die Flugbahn des Geschosses. Der Schuss war einen halben Meter zu weit links angesetzt und würde wie die anderen-
Umpf.
Ratsch!
Eine Böe hatte den Sandsack zur Seite gerissen - genau vor ihre Kimme.
Direkt in ihr Schussfeld.
Der Bolzen schlug ein und zog den Sandsack mit sich. Das Seil riss, und mit einem dumpfen Klatschen nagelte das Geschoss den nassen Sack an die Bordwand.
Myrielle seufzte auf und ließ die Armbrust sinken. Zwei ganze Köcher, vierundzwanzig Bolzen, hatte sie diesem Sandsack entgegengeschleudert - und sie war sich sicher, das auch der letzte bloß die Bordwand gespickt hätte, wenn nicht …
Sie warf einen Blick über die Schulter.
Die Kathedrale war immer noch zu sehen. Ihre Zinnen erhoben sich stoisch und schweigsam dem Morgenlicht entgegen.
„Ja,“ nickte Myrielle, „ich werde daran denken.“
Sie schritt über das Deck, die Bolzen einzusammeln.