In den Nachwehen des Vierten Krieges führte mich eine dunkle Vorahnung zurück in die Reiche der Menschen; nach Sturmwind, dessen König die Führung der jungen Allianz für sich beanspruchte.
Feuer und Tod begrüßten mich, als die Eisige Maid in die Sturmwinder Gewässer eintrat.
Ich war zu spät. Natürlich war ich das. Fünfzehn Jahre in den Schatten hatten den Kult der Verdammten gut in dem werden lassen, was er tat.
Das letzte Wasser troff vom Schaufelrad, als das Schiff des Nachts in der Nebelbank vor Anker ging. Die Eisige Maid war ein Handelsschiff unter dem Kommando eines alternden kul tiranischen Schmugglers namens Rickard Lenzen. Sie befuhr eine Handelsroute entlang der Südküste von Nordend, von der Valianzfeste über Unu’pe und Moa’ki bis nach Kamagua, um dann den Kurs südwärts in die Östlichen Königreiche anzutreten, den Bauch voll mit gesalzenem Seefisch, Vrykul-Met und tuskarrgeschnitzten Mammutstoßzähnen. Nun waren wir an unserem Zielort, doch wir legten nicht an.
Kalter Nebel stand auf dem Wasser und machte es beinahe schwer, die eigene Hand vor Augen zu sehen. Dies war nicht die arktische Kälte Nordends – doch sie war feucht genug, dass sie sich beinahe schlimmer anfühlte. Mein Mantel hing schwer von meinen Schultern, und das Futter meiner Lederrüstung hätte genauso gut ins Meer getaucht worden sein können.
In nebelverhangener Dunkelheit schritt ich das Deck der Maid ab.
Ich fand den Käpt’n auf der Brücke.
„Bal’a dash“, sagte ich.
„Fräulein Valaerys.“ Rickard Lenzen stieß ein mühseliges Seufzen aus. „Warum überrascht es mich nicht, Euch noch an Deck zu sehen?“
„Wir sind vor Anker gegangen,“ sagte ich. „Heißt das, wir haben unser Ziel erreicht?“
„Schaut hinaus.“ Käpt’n Lenzen deutete mit einer Pranke in den Nebel. „Was seht Ihr?“
„Nichts,“ sagte ich. Ich wölbte fragend die Brauen.
„Präzise. Nichts. Kein Leuchtturm.“
„Was hat das zu bedeuten?“ Fragte ich.
„Das heißt entweder, dass Sturmwind kein Interesse mehr an Handel mit Übersee hat,“ brummte er, „oder dass diese Nebelbank zu dicht ist, um noch eine Minute länger in Bewegung zu bleiben. Ich seh’ kaum meine eigene Nasenspitze, geschweige denn unseren Kiel - oder irgendeine lichtverdammte Küste.“
„Vielleicht solltet Ihr Euch eines dieser Augengläser machen lassen, wenn wir angekommen sind.“ Gab ich mit einem mildem Schmunzeln zurück.
„Hah!“ Bellte der massige Mann. „Wir bleiben jedenfalls hier. Meine Nase sagt mir, dass wir richtig sind.“
„Seid Ihr Euch sicher?“ Fragte ich.
„Fräulein, ich hab’ diese Küste schon befahren, da habt Ihr noch-“
Ich schrägte den Kopf an. „Ja?“
„Hmpf. Jedenfalls schon eine ganze Weile.“
Ich nickte knapp. „So gebt mir ein Beiboot, während Ihr auf klare Sicht wartet. Wir hätten Sturmwind schon vor Tagen anlaufen sollen.“
„Bei diesem Nebel? Unter keinen Umständen.“
„Ich lasse Euch mein Pferd als Pfand.“ Sagte ich. „Falls ich auf Riff laufen sollte, könnt Ihr es im nächsten Hafen gegen ein neues Boot eintauschen. Vermutlich sogar gegen zwei.“
„Und Ihr wärt trotzdem ertrunken.“ Brummte der alte Mann.
„Ihr macht Euch Sorgen um mich, Käpt’n?“ Gab ich belustigt zurück.
„Ach, rutscht mir doch vom Buckel!“ Brummte der Alte. „Ihr seid mein Passagier. Bis Ihr beide Füße wieder fest an Land gesetzt habe, liegt Euer Wohlergehen in meiner Verantwortung.“ Er fuhr sich durch den grauen Walrossbart. „Aber meinetwegen. Wenn ich Eure vorlaute Nase dann los bin, packt Eure Sachen. Ich werde ein Beiboot klarmachen lassen.“
Ich zog meine Kapuze ein Stück zurück und neigte das Haupt. „Shorel’aran, Käpt’n. Und habt vielen Dank.“
„Geschenkt.“ Brummte er.
Ich wandte mich zum Gehen, als Käpt’n Lenzen noch einmal das Wort erhob.
„Fräulein,“ sagte er.
Ich sah über die Schulter.
„Passt auf Eure hübschen Ohren auf, wenn Ihr an Land seid. Ich hab’ da kein gutes Gefühl.“
Ich nickte. „Das habe ich auch nicht.“
Ich striegelte meiner Mähre ein letztes Mal das Fell und gab Anweisung, sie an Land zu bringen, sobald die Maid würde anlegen können, dann bestieg ich das Beiboot.
Der Bootsmann war ein blonder Jüngling, der sich mir mit gilnearischem Akzent als Milo vorstellte. Von nichts als einer einfachen Schiffslaterne geleitet, ruderten wir in den Nebel hinaus.
Es war windstill, mit nichts weiter zu hören als dem beständigen Klatschen der Ruder.
Die Maid verschwand praktisch sofort außer Sicht.
Zum Warten verdammt, nahm ich meine Armbrust auf den Schoß und spannte die Sehne mit dem Repetierhebel. Er lief tadellos, dennoch zog ich ein Tuch vom Gürtel, tünchte es in Waffenöl und begann, den Lademechanismus erneut einzuschmieren.
Meine Finger brauchten etwas zu tun.
Mechanisches Ratschen gesellte sich zum rythmischen Takt der Ruder.
Milo sah zu mir hinüber. „Müsst Ihr das machen?“
Ich sah nicht auf. „Muss ich was machen?“
Er deutete auf meine Armbrust und verlor darüber für einen Moment den Takt. „Das. Ihr macht mich nervös.“
„Ihr seid ohnehin nervös.“ Sagte ich. „Ich mache mich lediglich bereit, sollte es einen Grund dafür geben.“
Der Junge schnaubte.
Ich beendete die Waffenpflege und spannte die Armbrust, als mir etwas helles im Wasser auffiehl.
„Da vorne.“ Sagte ich. „Auf zwei Uhr.“
Milo reckte den Kopf, um über den Bug sehen zu können. „Ich sehe es,“ sagte er, ließ die Ruder sinken und nahm die Schiffslaterne aus ihrer Verankerung.
„Ein Mann“, sagte ich.
Milo beleuchtete das Wasser um den treibenden Körper. „Tot,“ urteilte er, „er schwimmt mit dem Gesicht nach unten.“
„Gebt mir die Laterne,“ sagte ich, „und bringt uns näher heran.“
Käpt’n Lenzen musste Recht gehabt haben, was unsere Position anbelangte. Nicht nur war dort ein Mann im Wasser, selbst durch Nebel und Dunkelheit hindurch leuchtete das Königsblau seines Wappenrockes.
Eine Schnapsleiche, vermutete ich. Es kam immer wieder vor, dass Matrosen vom Steg oder von ihren Schiffen fiehlen, insbesondere, wenn Nebel und Alkohol im Spiel waren.
Ich sollte mich irren.
„Er hat keine Beine mehr!“ Stieß Milo erschrocken aus, als unser Boot neben der Leiche zum Stehen kam.
Ihm fehlte außerdem eine Hand.
„Was für ein Monster war das?“
„Jedenfalls keines, das auf See zuhause ist.“ Sagte ich.
Milo machte Anstalten, den Mann aus dem Wasser zu fischen, doch ich hielt ihn zurück. „Das wird ihn nicht zurückbringen,“ sagte ich, „sein Leichnahm belastet uns nur.“
„Herzloses Elfenweib!“ Schnappte der Bootsmann. „Ich weiß nicht, wie Ihr es in Quel’thalas gehandhabt habt, aber wir Menschen bestatten die unseren. Der Mann wird Familie gehabt haben, Freunde, eine Mutter - wenn wir herausfinden können, wer-“
Wir hörten es beide.
Ein Schrei, hell, kurz und voller Schrecken.
Dann Stille.
„Bringt uns an Land.“ Sagte ich, doch Milo hängte sich bereits in die Riemen.
Ich lud einen Bolzen in meine Armbrust.
Der Nebel lichtete sich. Zuerst zeichneten sich die Silhouetten von Stegen und Schiffen vor der Dunkelheit ab - dann verschwand die Dunkelheit selbst vor dem Zwielicht der Hauptstadt der Allianz. Feuer schien von der Oberstadt herab.
„Ist das - ein Laternenumzug?“ Fragte Milo, offenbar, ohne die Möglichkeit selbst recht glauben zu wollen. „Schlotternacht ist lange vorbei.“
Ich antwortete nicht.
Wir erreichten den Pier, und Milo warf ein Tau aus, um uns an Land zu ziehen.
Ich sprang auf den Pier und reichte ihm meine Hand.
„Hier sollten eigentlich mehr Leute sein.“ Sagte Milo. Er hatte ein langes Entermesser gezogen. Der ferne Feuerschein spiegelte sich in der blanken Klinge.
Ein weiterer Schrei.
Dann Schritte auf dem Pier. Jemand rannte auf uns zu.
Ich hob die Armbrust, doch der Bootsmann hielt mich mit einem Arm zurück. „Wartet!“
Eine Frau in zerrissenen Kleidern warf sich uns entgegen. „Nehmt es!“ Flehte sie, und drängte Milo ein schreiendes Bündel auf. „Nehmt es, bitte, ich kann nicht mehr länger-“
Ein nasses, gutturales Heulen schnitt ihr das Wort ab.
Weitere Gestalten zeichneten sich vor dem blassen Schein des Feuers ab, hinkend, schlurfend – doch unwahrscheinlich schnell.
Die Frau trommelte mit blutigen Fäusten gegen Milos Brust. „Nehmt es und geht! Bringt es weg, bitte, rettet mein Mädchen-“
Der erste Ghul sprang aus den Schatten und direkt in meinen Bolzen. Knochen splitterten, als die untote Kreatur in der Mitte durchbrach.
Ich lud durch und erledigte den nächsten.
Und den nächsten.
Schließlich war kein Raum mehr zum Nachladen, und ich hielt die Untoten mit dem Kolben meiner Waffe in Schach.
Milo wehrte sich mit seinem Entermesser, das schreiende Bündel im Arm, die zitternde Frau in seinem Rücken.
„Die Laterne!“ Rief ich ihm zu.
„Was?“ Rief Milo.
„Die Schiffslaterne – Feuer!“
Ich stellte mich vor ihn, um ihm eine kurze Atempause zu verschaffen und fing die hungrigen, geifernden Kiefer eines Ghuls mit meiner Armbrust auf.
Mit Wucht trat ich ihm vor die Brust – doch ein anderer trat sofort an seine Stelle.
Doch Milo hatte verstanden und den Moment genutzt. Immer noch das wimmernde Bündel im Arm, schwang er die Schiffslaterne nach den Ghulen und zwang sie tatsächlich auf Abstand.
Ich lud durch und schoss zweimal, dreimal, bis niemand mehr stand.
Dann wurde es still auf dem Pier.
„Danke“, wisperte die Frau hinter uns, „ich … ich weiß nicht, was ich sonst-“
Wir wandten uns herum, und ich suchte sie mit meinem Blick ab.
Milo hatte denselben Gedanken. Er beleuchtete sie mit der Schiffslaterne.
Die Frau blinzelte und hob schützend eine Hand vor das Gesicht.
Ihr weißes Kleid hing in blutigen Fetzen von ihr herab. Sie hatte mindestens Schürfwunden davongetragen, und blutete aus einigen Krallenhieben.
Aber kein Biss.
„Bitte-“ Die Frau sah furchtsam von Milo zu mir. „Ihr habt ein Boot, bitte – bringt wenigstens meine Tochter in Sicherheit. Sie heißt Vanessa – nehmt sie mit, rettet sie, mehr verlange ich gar nicht. Mein Mann ist … er hat sich …“
Ich hob eine Hand und unterbrach sie. „Seid Ihr gebissen worden?“
„N-nein! Nein, sie haben mich nur … mit ihren Klauen, und, und, und Pranken-“
Milo sah mich hilfesuchend an.
„Bringt sie aufs Schiff.“ Sagte ich leise.
„Seid Ihr – seid Ihr sicher?“ Fragte er.
„Sagt dem Käpt’n, er soll ihr eine Einzelkabine geben und sie zwei Tage unter Bewachung stellen.“ Sagte ich. „Niemand darf zu ihr – auch nicht das Kind.“
Besonders nicht das Kind. Ich sah in die Augen der Frau, und erblickte dort dieselbe dunkle Ahnung, die auch mich erfasste.
Milo nickte knapp. „In Ordnung.“
„Und falls er die Anker lichtet - sagt Ihm Lebewohl.“
Der junge Bootsmann presste die Lippen zusammen. „Und Ihr?“
Ich lud einen Bolzen in meine Armbrust.
„Ich gehe Ghule jagen.“