Anlässlich eines Projektbestrebens für dieses Jahr (eigentlich auch letztes, egal) und aktueller Diskussionen habe ich mich mit dem Thema Landnehmung im Rollenspiel befasst.
Definition:
Landnehmung im Rollenspiel meint die Praktik Landstriche und Orte für das allgemeine oder private Rollenspiel zu erfinden und innerhalb einer bestimmten Gruppe zu etablieren.
Landnehmung ist dabei verwandt mit der Addition von Charakterrollen durch Rollenspieler, allerdings streng genommen nicht vergleichbar, weil sie die bestehende Welt nicht vertieft, sondern schlicht erweitert. Charakterrollen hingegen vertiefen die Welt, weil sie bestehende Konzepte aufgreifen und (im Erfolgsfall) sinnvoll verarbeiten.
Oft dient Landnehmung dem Zweck einer Kulisse, die eigenbestimmbar und somit unabhängig von den offiziellen Lorequellen ist. Dabei deckt man in der Regel einmalige Plotkulissen ab oder bietet Szenen für regelmäßiges Rollenspiel. Landnehmung kann dabei in einem kleinen Stil auftreten oder in einem größeren Maßstab.
Beispiele für Landnehmung im kleinen Stil: ein Haus in einer bereits existierenden Ortschaft (bspw. Sturmwind), eine koboldverseuchte Höhle im Brachland, ein Zentaurencamp in Desolace, ein Piratenversteck
Beispiele für Landnehmung im großen Stil: das Herrschaftsgebiet eines Barons (fiktive Baronie Weiherstedt der Familie Morrowe), eine schillernde Piratenbucht
Warum braucht man Landnehmung?
Im eigentlichen Sinne braucht man sie nicht. Allerdings ist die Verwendung von offiziellen Ort- und Landschaften auch ein Problem, weil sie Präzedenzen für die Zukunft setzt. Daher kann Landnehmung als Problemlöser agieren.
Beispielhafte Erklärung:
Wenn ich sage, dass meine Räubertruppe das Gasthaus in Seenhain in Brand gesteckt hat, dann greift man in den Status-Quo der Welt ein. Denn dieser Status Quo besagt, dass es ein Gasthaus in Seenhain gibt und es jederzeit funktionsfähig ist. Das suggeriert uns jedenfalls die Welt und kein NPC wird uns jemals von einem Brand durch Räuber erzählen.
Es gibt nun zwei Möglichkeiten den Status Quo wiederherzustellen:
- [M1] Das Gasthaus wird einfach wiederaufgebaut.
- [M2] Ich sage, dass es ein anderes Gasthaus war.
Möglichkeit 1 bedeutet einen interaktiven Umgang mit der Spielwelt, der aber anderen Spielern in Zukunft es erschweren könnte auf einen gemeinsamen Nenner, was geschichtliche Abläufe angeht, zu kommen.
Möglichkeit 2 bezieht sich auf einen vertiefenden Aspekt der Welt. Mit M2 umgeht man auch etwaige Eingriffe in den Status Quo der Welt, weil man Aussagen über Dinge trifft, die in der Welt eigentlich nicht existieren.
Probleme mit Landnehmung [M2]:
Sie sind inhärent nicht Teil der Welt und rangieren daher in den Maßstäben der Grauzonen bis hin zu free fantasy.
(Exkurs free Fantasy: FF meint Aspekte eines rollenspielerischen Inhalts, die entweder Bezug auf ein anderes Spieluniversum nehmen oder komplett frei erfunden sind. Aufgrund dieser Eigenschaften wird der Begriff oft pejorativ benutzt, um Inhalte von ihrem Sinn nach voneinander abzugrenzen.)
Die Einteilung in diese Maßstäbe erfolgt meist durch die Spieler, weniger von den Schaffern selbst. Hierbei kollidieren oft die erwarteten Zielvorstellungen der beteiligten Spieler. Auf der einen Seite steht der Inhalt. Auf der anderen Seite die Kritiker des Inhalts, die dessen Sinnhaftigkeit innerhalb des gemeinsam bespielten Universums in Frage stellen.
Umgang mit Landnehmung im Rollenspiel:
Rollenspiel ist wie Theater. Und als solches spiegeln beide Dinge das reale Leben wider. Menschliches Leben ist üblicherweise ständige soziale Interaktion mit anderen Menschen. Gesellschaft ist in der Regel konsensorientiert, was bedeutet, dass alle Teilnehmer zumindest in den grundlegenden Dingen einander zustimmen müssen, ansonsten hat man keine Gesellschaft, sondern ist in Faktionen (Fachbegriff) gespalten.
Landnehmung ist daher eine riskante Methode, um rollenspielerische Unabhängigkeit zu gewährleisten, weil sie die Vereinbarkeit der Gesellschaft in Frage stellt. Man erweitert die Welt, ohne um Zustimmung oder Ablehnung zu wissen. Man weiß also nie, ob der eigene Eingriff tatsächlich als legitim angesehen wird oder ob Rollenspieler einfach nicht davon wissen und sich daher nicht dagegen aussprechen können.
Cadrius‘ Dimensionen:
Hat man sich also für M2 entschieden, bleibt einem natürlich nur die Frage inwieweit das Konzept vom üblichen Maßstab der Welt abweicht. Um einen einheitlichen Maßstab zu ermöglichen, definiere ich nun meine eigene Betrachtungsdimensionen. Es erfolgt eine Einteilung in Grauzonen und Free Fantasy. Letztere Einteilung gilt als zu vermeiden, wenn man sich nicht von der Rollenspielergemeinschaft entfernen will. In Abstufungen folgend nach Schwere und Einfluss der jeweiligen Dimension.
Eine Beantwortung mit Ja definiert eine Einteilung als Free Fantasy:
- Ist die Landnehmung von einem (spielwelt-)fremden Konzept kopiert?
- Hat die Landnehmung längerfristig großen Einfluss auf die Rollenspieler/Spielwelt?
- Ist Landnehmung lediglich der Versuch Autorität zu erlangen?
- Verdrängt oder ersetzt die Landnehmung bereits existierende offizielle Konzepte für dasselbe Thema?
- Dient Landnehmung rein ästhetischen Zwecken? sprich: ist sie eigentlich nicht notwendig?
Schlusswort:
Landnehmung ist eine Praktik, die immer einen Eingriff in die Spielwelt kennzeichnet. Sie kann legitim sein und sich im Rahmen von Grauzonen bereichernd in die Welt einfügen. Sie weist allerdings auch Problematiken auf, die offen angesprochen werden müssen.
Persönliches Schlusswort:
Gebt mir eure Gedanken, Kritik und was auch immer ihr sonst für notwendig haltet.