Ein Leben mit dem Licht
Xzerilin war schon so alt, dass sie sich nicht mehr genau erinnern konnte, wie es gewesen war jung zu sein. Jedenfalls erzählte sie das immer den jungen Novizen und verwundeten Abenteurern, wenn sie streng wirken wollte. Xzerilin kicherte gutmütig bei dem Gedanken, wie brav die jungen Leute dann immer spurten. Und sie erzählte es auch sich selbst. War sie nicht schon immer hier gewesen? Hatte sie nicht schon immer getan, was sie gerade tat?
So dachte sie, während sie lächelnd Kohle in die Pfannen des Tempels warf. Hier, im Mystikerviertel von Ironforge, war sie zu Hause. Hier diente sie dem Licht, so gut sie es vermochte und hatte das auch schon immer getan. Doch das stimmte nicht, fiel ihr plötzlich ein. Eigentlich kam es ihr doch wie gestern vor, dass sie als junges Zwergenmädchen durch die Hügel Dun Moroghs gestreift war, unbedarft und glücklich, den wilden Tieren ausweichend, die die Hügel bevölkerten. Bei dem Gedanken, welche Sorgen sich ihre Mutter gemacht hatte, lächelte Xzerilin unwillkürlich. Ja, Kharanos, ihre Heimat. Wie lange war sie schon nicht mehr dort gewesen? Ein paar Jahre vielleicht. Die Zeit verging in Ruhe und Licht und Frieden. Innerem Frieden, natürlich. Gewiss gingen die Nöte der Welt nicht an Xzerilin vorbei, schließlich gingen Abenteurer im Tempel ein und aus – Priester, Paladine, Magier. Sie alle lernten unentwegt neue Fähigkeiten und Zauber und kamen mit ihren Verletzungen zurück, wenn sie denn zurückkamen. Xzerilin versorgte dann ihre Wunden, redete ihnen gut zu und schickte sie wieder fort. Tag um Tag, Jahr um Jahr. Es bekümmerte sie wohl mancher Tage, doch so war die Welt und so musste sie sein - Licht und Schatten - und Xzerilin würde einfach immer weiter hier sein und dem Licht dienen. Ein glücklicheres Leben konnte sie sich nicht vorstellen. Gewiss, so mancher diente dem Licht als Abenteurer, aber das überließ sie dann doch den jungen Leuten. Hingebung und Licht erfüllten ihre Tage, nicht die Jagd nach Ruhm. Solcherlei Gedanken der Dankbarkeit wanderten durch Xzerilins Kopf, während sie bedächtig die Asche unter den Kohlepfannen zusammenfegte. So würde es zum Glück immer bleiben. Sie würde glücklich und zufrieden in Ironforge leben, nahe der großen Schmiede, in Wärme und Geborgenheit und eines Tages zufrieden und im Reinen mit sich im Licht aufgehen.
Wie sehr sie sich täuschte…
Der verwundete Krieger lag vor ihr und atmete röchelnd. Viele Abenteurer ließen sich im Tempel behandeln, auch wenn es noch andere Möglichkeiten der Versorgung in Ironforge gab. Eilig breitete Xzerilin einige Verbände, Manatränke und Utensilien auf dem Boden vor ihm aus. Die Gefährten des Kriegers, die ihn soeben hereingetragen hatten, standen hilflos herum und wirkten recht blass. Diese jungen Abenteurer, zu nichts zu gebrauchen! „Na los!“, drängte Xzerilin in einem ruhigen, aber befehlsgewohnten Ton, der in solchen Fällen meist funktionierte, „Holt ihn aus dieser Rüstung raus! Er kann auch so schon kaum atmen!“. Seine beiden Gefährten stolperten auf ihn zu und hantierten fahrig und ungeschickt an den Schließen herum. Xzerilin seufzte ungeduldig und schob sie resolut zur Seite. Mit geübten Fingern befreite sie den verletzten Krieger aus seinen Panzern. Während sie ihm diversen Firlefanz aus den Taschen zog und einige Wuttränke, Heiltränke, Brotkrusten und kleine Bomben achtlos zu seiner schweren Montur stapelte, tapsten die Gefährten des Kriegers nervös von einem Bein auf das andere. Und das zu Recht! Wer ging schon ohne Heiler auf ein Abenteuer? „Raus hier! Holt mir ein paar Novizen her, ihr stört doch nur!“ Wies sie sie an, ohne sich auch nur umzusehen.
Xzerilin betrachtete rasch die zahlreichen Wunden des Kriegers und dachte kurz daran, dass früher nur Zwerge hierher gekommen waren. Er schien unter den Verletzungen, dem Blut und Schmutz weder alt noch jung zu sein, ein Mensch, das Haar schon grau. Seinen Namen kannte sie nicht und er kümmerte sie auch nicht. Mit eisernem Willen schloss sie die Augen zum Gebet und rief das Licht an, bat nicht, sondern gebot, der Krieger möge von seinen Wunden geheilt werden, wie hunderte Male zuvor.
Doch es reichte nicht, wie Xzerilin plötzlich feststellte, als sie die Augen öffnete. Seine Wunden waren zu tief. Entschlossen wirkte sie ihre mächtigsten Zauber und Schweiß trat ihr auf die Stirn, sie warf sich ganz ins Licht. Es strengte sie mehr an als früher und war doch auch leichter, da das Licht nicht mehr nur ein vertrauter Freund, sondern ganz Teil ihres Seins war, ihrer selbst.
Schwarze Sterne, gerahmt von Licht, tanzten am Rande ihres Blickfeldes und verengten den Tunnel ihres Blickes, doch um Hilfe zu holen, war keine Zeit mehr. Nein! Niemand würde ihr unter den Händen wegsterben, das kam nicht in Frage! All die Jahre hatte sie alle gerettet, die zu ihr gekommen waren und damit würde sie heute nicht aufhören! Den Blick fest auf das unruhige Gesicht des Kriegers gerichtet, griff sie fahrig nach einem ihrer Manatränke. Ihre Hand fand das Fläschchen und sie trank es in einem Zug aus. Sie trank es aus, noch bevor sie den sonderbaren Geschmack bemerkte, die ungewöhnliche Farbe. „Interessant“, dachte sie noch, bevor sie animalisch schreiend zusammenbrach…
An die nächsten Tage erinnerte sich Xzerilin später nur bruchstückhaft. Fiebernd, träumend, von Schmerzen durchflossen lag sie zwischen weißen, schweißnassen Leinentüchern, umsorgt von einem stetig fließenden Strohm von Novizen. Sie war erfüllt von einem Gefühl, das so orange-rot feurig brannte wie der Trank, den sie in einem Zug geleert hatte. Das Gefühl war ihr unbekannt, nur vage vertraut, entfernt geläufig. Es verkohlte sie von innen, trieb ihr Fieber in die Höhe, Hitze, gleißendes Licht vor ihren Augen. Doch es war nicht das Licht, das sie liebte. Es war auch nicht der Schatten, den das Licht in jedes Wesen warf, wie sehr es auch dem Licht diente. Wo ihr Licht sanft umarmend war wie Sonnenlicht auf einer Waldlichtung im Frühjahr, war dieses Licht gleißend wie die Funken eines Schmiedehammers auf Mithril, heiß und stechend kalt zugleich. Kein Schatten stahl sich in dieses Licht. Xerilin war verloren in einem Strudel aus Emotionen und Schreien, der sie verschlang, den sie verschlang - und der sich einige Tage später selbst verschlang wie ein gieriges Feuer, das alles Brennbare gefressen hat und nun schließlich selbst zerfallen muss zu einem kleinen Haufen Asche und Glut.
Als das Gefühl schwächer würde, erkannte sie es endlich: Wut. Da nahm Xzerilin die Welt um sich her wieder wahr und sie spürte das Licht und den Schatten in sich, um sich. Heimat. Erleichterung. Das Feuer, das der Wuttrank entfesselt hatte, war gelöscht. Xzerilin hob ihre heisere Stimme und rief nach den Novizen. Eine junge Zwergin eilte herbei und sprach beruhigende, nichtssagende Worte, wie sich das an einem Krankenbett gehörte. Xzerilin sah die Erleichterung in ihren Augen und das Licht. „Gut ausgebildet“, dachte sie bei sich und lächelte. Dann antwortete sie einige beruhigende, nichtssagende Worte und stand schon kurz darauf auf, um ihre Pflichten im Dienste des Lichts wieder aufzunehmen, als wäre nichts gewesen. Doch tief in sich spürte Xzerilin die Glut, den kleinen Haufen Asche.
Die Glut wollte auch in den nächsten Tagen nicht verglimmen, als Xzerilin längst wieder ihren Pflichten nachging und ihr von allen Seiten versichert wurde, wie gut sie wieder aussehe. Als sie wieder Verwundete versorgte, erlosch die Glut nicht. Als sie hörte, dass der Krieger sich bester Gesundheit erfreue und zweifellos schon wieder neuen Unsinn anstellte, erlosch die Glut nicht. Als sie Ruhe suchte in Arbeit, erlosch die Glut nicht. Als sie die Treppen hinaufstieg zu ihrem alten Freund Theo, in den weniger belebten Teil des Tempels, fand sie auch in der Stille keine Ruhe. Was war nur los mit ihr? Diese Frage stellte sie auch Theo, der ihr sagte, sie möge sich ausruhen. Das Funkeln in seinen Augen verriet ihr gleich, dass er selbst nicht glaubte, sie würde dies tun. „In all den Jahren habe ich das Nichtstun nie gelernt“, gab sie schmunzelnd zurück. Doch schon nach wenigen sonnigen Sätzen wurde ihr Gespräch düsterer. „Was ist es denn, das du fühlst?“, fragte er nach mehreren Minuten geradeheraus, nachdem Sie ausführlich über Licht, Schatten und Feuer referiert hatte. „Nun, es ist ja offensichtlich“, meinte Xzerilin etwas peinlich berührt, „Wut“. Theo nickte. "Natürlich ist es offensichtlich. Wir wissen alle, was du getrunken hast. Du musstest es nur einmal selbst sagen.“ Doch Xzerilin hatte nicht das Gefühl, dass ihr das irgendwie geholfen hatte. Die beiden greisen Zwerge waren sich dann auch schnell einig, dass sie das nicht weiterbrachte. „Ich bin Priesterin, kein übermütiger Krieger! Ich gebe mich solchen albernen Gefühlen nicht hin! Oder… so war ich. Meine Ruhe habe ich verloren. Wer bin ich jetzt?“ Nach diesem Ausbruch saßen sie eine Weile still beisammen. „Weißt du, Xzerilin, die meisten von uns fragen sich, wie du überhaupt immer so zufrieden dienen konntest, ohne Klage, ohne Verzagen, ohne Zweifel.“ Sprach Theo nachdenklich mehr zu sich selbst.
Als Xzerilin Rat bei den jungen Paladinen des Tempels suchte, erntete sie unbekümmertere Reaktionen. „Wie kann ich dem Licht in Frieden dienen, wenn es in meiner Seele brennt?“, wollte sie wissen. Erst war sie irritiert, als einer nach dem anderen in Lachen ausbrach. Da hätte sie ja auch die wuseligen Gnomenmagier fragen können, die seit einiger Zeit im Tempel lebten! Von denen hätte sie keine Hilfe erwartet, doch von den Paladinen durchaus. Schließlich entschuldigte sich Beldruk mit einem Blick auf ihre Mine und lenkte ein: „Das Licht ist noch da, sagst du? Selbst die Schatten, mit denen ihr Priester herumspielt“ er schüttelte missbilligend den Kopf, „sind kein Problem? Aber die Wut? Ein bisschen Feuer schadet euch Priestern zur Abwechslung doch nicht!“ Er richtete sich stolz auf und sprach nun feierlich mit donnernder Stimme und zu viel Pathos selbst für Xzerilin Geschmack: „Was du spürst ist ein heiliger Zorn der Gerechtigkeit, wie wir Paladine ihn seit jeher spüren, pflegen und nutzen. Er macht uns zu wahren Kämpfern für das Licht! Zum Helden wird man nicht mit Kehrblech im Tempel!“ Schloss er triumphierend. „Ich diene. Eine Heldin zu sein ist nicht mein Ziel.“ erwiderte Xzerilin streng, doch seine Worte blieben auch nach dem Abschied in ihren Gedanken haften.
„Es ist nicht richtig! Die Welt gerät aus den Fugen! Überall ist Schatten! Was wir hier tun, reicht einfach nicht!“, hörte sich Xzerilin wenige Tage später zu ihrer eigenen Überraschung sagen. „Ähm…“, erwiderte der etwas verdattert aussehende Zwerg, dessen Eberbisswunde sie gerade versorgte, denn ihr Ausbruch hatte seine Schilderung unterbrochen, in der der Eber, den er hatte zähmen wollen, immer größer geworden war. „Oh, Verzeihung, mein Kind. Übe das nächste mal vielleicht einfach mit einem Frischling, aber lass erst die Wunde ausheilen! Ich wusste auch gar nicht, dass Eber beißen. Erzähl doch bitte weiter!“ antwortete Xzerilin etwas peinlich berührt.
Mehrere Tage dachte sie nach, ließ sich Zeit, suchte in sich nach Antworten und nach den richtigen Worten. Dann packte sie ihre Sachen und erbat ein Gespräch mit Hohepriester Rohan. Nach einer ehrerbietigen Verbeugung rezitierte Xzerilin: „Meines Bleibens ist nicht länger hier. Ich muss gehen und alles tun, um die Welt vor den wachsenden Schatten zu schützen. Ich erbitte deinen Segen.“ Rohan nickte förmlich und mit der Würde seines Amtes. Sie pflegten einen freundschaftlichen Umgang, doch dies war kein Moment dafür. „Du hast ihn, Priesterin.“
Und so begab es sich, dass Xzerilin auszog die Welt zu retten.