105 - Lagharta in der neuen Welt
Vorsichtig schlich die Gnomin durch die Höhlengänge, sah sich in Ruhe um, und drückte sich immer wieder gegen die kalten, feuchten Felswände, um unsichtbar zu bleiben. Es sah hier alles aus wie immer, in ihrer Erntehöhle im Hinterland. Lagartha konnte es gar nicht glauben, dass sie – wie Jael Spektralia es erwähnte – in einer anderen Welt angekommen war. Hier war überhaupt nichts anders, es war alles so wie in der „anderen“ Welt. Nur die Leute waren teilweise anders. Einige waren in anderen Lebenssituationen, wie beispielsweise dieser Mensch Reas, mit dem sie sich sowieso noch unterhalten wollte.
Nichtsdestotrotz wollte Lagartha hier die Probe aufs Exempel machen. Und dafür mussten ein paar Geisterpilze herhalten. Doch waren sie „hier“ nirgendwo zu finden. Also musste sich die Schleicherin weiter ins Innere der Höhle wagen. Die Luft roch modrig und erdig, derselbe Geruch lag in der Luft. Alles Anzeichen dafür, dass die Geisterpilze hier zu finden sein mussten. Und endlich wurde Lagartha fündig. Ganz hinten, in einer gewölbeartigen Kammer wuchsen ein paar fluoreszierend leuchtende Geisterpilze. Die Schleicherin konnte sie mühelos einsammeln, wickelte sie sorgfältig in feines Leinen und verstaute sie in ihrer Gürteltasche. Dann verliess sie die Höhle wieder und ritt zurück zum Stützpunkt der Allianz, um dort in Ruhe das Geisterpilzserum zu extrahieren. Sie hatte alle Zeit dieser Welt, denn Kügelchen, Spektralia und der Mensch Reas wurden von dieser seltsamen Leerenelfe in die Pestländer gerufen. Dieser Ausflug würde sie eine Weile beschäftigen.
Lagartha reiste nach Kharanos und bezog dort Quartier. Komischerweise kannte der Gastwirt sie dort nicht, obwohl sie in der Vergangenheit oft in Kharanos gastierte. Dann fiel ihr wieder ein, dass der Gastwirt in „dieser“ Welt sie ja gar noch nicht kennen konnte. In ihrem Quartier kümmerte sie sich in Ruhe um die Geisterpilze und stellte bald fest, dass Konsistenz und Wirkung dieselbe waren wie immer. Also war doch nicht alle so anders, wie sie es anfänglich befürchtete.
Ein Tag später packte sie ihre Siebensächelchen wieder zusammen und reiste ins Schlingendorntal. Sie wollte sich vergewissern, ob dort die „goldene Perle“, das Schiff des Piraten Samarkand nicht doch in Beutebucht vor Anker lag. Dann hätte sich nämlich das Gespräch mit dem Menschen Reas erübrigt. Doch nach einigen Gesprächen mit dem Gesindel in Beutebucht stellte sich rasch heraus, dass Schiff und Crew vor einigen Jahren spurlos verschwand und seither als verschollen galt. Nur die Wenigsten erinnerten sich noch an dieses Piratenschiff und an diese Crew, die sich vermutlich längst in alle Winde zerstreute, sofern sie überhaupt noch lebten. Und Lagartha war sich nun sicher, dass sie hier doch in einer anderen Welt war. Denn wo sie herkam, gab es die „goldene Perle“ noch. Sie reiste ja grad kürzlich als blinder Passagier mit an Bord, um sich „ihren“ Anteil an einer Beute zu sichern, auf die sie eigentlich keinen Anspruch gehabt hätte. Nachdem sie zufälligerweise in einem unbeherrschten Anfall von Seekrankheit aufgegriffen wurde, wollte der Käptn sie kielholen. Aber nach viel Geschrei und Gezeter ihrerseits wurde in letzter Sekunde erkannt, dass die kleine Schleicherin für die „goldene Perle“ lebend von grösserem Wert war als tot. Also hatte sie eine besondere Meuchel-Aufgabe zu erfüllen, ein Mordauftrag. Diesen gedenkte sie aber nicht zu erfüllen, weil sie vom Angebot des Sprengkommandos Gebrauch machte, und in die neue, unverbrauchte Welt floh. Und mit dem einzigen hier gesichteten Piraten der „goldenen Perle“, diesem Reas, müsste sie sich also noch auseinandersetzen. Wie es schien, war dieser Mensch hier aus anderem Holz geschnitzt, denn er schien aufrecht und ehrlich zu sein. In der anderen Welt war es das pure Gegenteil und er war es auch, der die Gnomin unbedingt kielholen wollte. Gut, dass er hier nichts davon wusste.
Nach ihrem Ausflug ins Schlingendorntal reiste die Gnomin wieder nach Kul Tiras und traf dort Schildchen. Gemeinsam wollten sie dort warten, bis Spektralia, Kügelchen und Reas ebenfalls zurück kehrten.