[A-RP] 🍷 Gut Löwenbrück

Alte Freunde

Ein kurzer, prüfender Seitenblick nach links, dann nach rechts. Der Ritter hielt Ausschau nach blonden oder schwarzen Haaren, die jederzeit unvermittelt um die Ecke biegen mochten, während eine Hand raschelnd im kleinen Lederbeutel am Gürtel herumwühlte. Zwei schwielige Finger zerrieben ein paar der Kräuter, als sie eine gute Prise umfassten, die andere Hand klopfte über die Weste und ihre Taschen (ungewohnt, ein paar Tage lang weder Kettenhemd noch Wappenrock tragen zu müssen) und zog etwas ebenso Raschelndes, Bräunliches hervor. Wieder ein prüfender Blick. Seine Frauen – der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln – waren nirgendwo zu sehen, also arbeiteten die Finger schneller, drehten, entzündeten ein Schwefelholz am Daumennagel und hielten still. Rauch stieg in den von Sturmwolken durchzogenen Himmel über Boralus, während Riordan gegen den vermaledeiten allgegenwärtigen Wind die Augen zu Schlitzen zusammenkniff, um den Tabak nicht auch visuell aufzunehmen. Die braunen und grauen Häuser der Stadt, die er durch das eingeschränkte Sichtfeld sehen konnte, die Anker überall und die eigenartig prävalente Tintenfischästhetik waren seltsam. Aber es war die Heimat seiner Ehefrau, und zumindest zu vagen fünfzig Prozent von seinem Sohn. Und anderen, weniger blutsverbundenen Kindern.

Paffend wie die Schlote, die er in der Ferne, dort, wo einst Aschenwinds Fabriken gewesen waren, die nun vermutlich anderen, marginal weniger raffsüchtigen Geschäftsmännern gehörten, gesehen hatte, drückte sich Riordan wie einer dieser übertrieben lässigen, dabei aber vor allem lächerlich aussehenden Protagonisten der Romantikromane, die seltsamerweise ständig aus der Bibliothek verschwanden, gegen die Reling des Schiffs, auf dem sie vor einigen Tagen angekommen waren. Sogar den Kragen des Mantels hatte er hochgestellt, ließ ihn aber verwegen offen flattern. Die Haare, locker zu einem Zopf gefasst, peitschten um seinen Kopf, als wollte er eine kastanienbraune Flagge gegen das allgegenwärtige Prachtmeergrün hissen. Alles war salzig hier. Die Luft, das Essen, sogar die Gedanken schienen sich, je länger man auf die vielen Galgen und Schaffots, auf die allgegenwärtige Präsenz der Wache, auf die Schlaglöcher in den Straßen und die teils abgemagerten Kinder blickte, die durch die Straßen huschten, zu verkrusten und auszutrocknen.

Kul Tiras war – wie Riordan, der sich wie alle Touristen anmaßte, fundierte Urteile über seinen Besuchsort zu fällen – nicht viel anders als Sturmwind. Die Löwen waren eben Kraken, wenn man ihn fragte. Tat man aber nicht.
Das Geräusch von Schritten wurde lauter – nicht schwer und trampelnd, das ließ einige der bekannten Gesichter ausschließen – sondern leise und verhuscht. Ehe er sich versah, stand ein Junge vor ihm, die Hosenträger, obwohl eng gefasst, immer noch wabbelnd auf dem dreckigen, graubraunem Hemd. Eine flache Mütze schützte den fransigen Haarschopf des vielleicht Zehnjährigen.
„Ein Brief für Euch, Sir!“, quakte der Kurier und hielt Riordan eine trotz der schludrigen Erscheinung des Jungen nicht einmal leicht geknickte Pergamentrolle hin. Der Löwe darauf, sowie das blaue Band mit den goldenen Elementen sorgte dafür, dass der Ritter die Augenbrauen zusammenschob, bis sie fast eine kontinuierliche Linie bildeten.
„Danke“, murmelte Riordan und griff mit der freien Hand nach dem Schreiben. Bevor er es öffnete, klopfte er wieder seine Weste ab und fischte ein paar Silberne hervor, die er in die erwartungsvoll erhobenen Hände des Knaben fallen ließ. „Woher kommt das?“
„Vom Hafen hier, Sir. Ging über‘s Büro des Hafenmeisters und kommt aus der Allianzhauptstadt.“
„In Ordnung. Sollst du eine Antwort zurückbringen, Kleiner?“
„Nuh-huh, Sir. Der Mann meinte, wenn ihr‘s lest, kommt Ihr selbst. Gezeiten mit Euch, Sir!“

Auf eine wischende Geste und ein skeptisches Stirnrunzeln des Ritters sowie leise, verabschiedende Worte rannte der Kurier die Planke nach unten und entschwand irgendwo in den Gassen, wo tausende seiner Art herumliefen. Riordan blickte sich kurz zu allen Seiten um, nickte ein paar Schiffsarbeitern zu, die an ihm vorbeizogen, irgendwelche Warenkisten mit der Münze auf der Woge – vermutlich Seonis Salz, bei ihr war alles Salz – und entrollte das Schreiben. Während die Augen über die Zeilen tanzten, passierte etwas sehr Eigenartiges mit dem Gesicht des Rebenritters: Die Mundwinkel zogen sich nach unten, dann nach oben. Die Augenbrauen gesenkt, als hätte er schlechte Nachrichten erhalten, lächelte er, als würde er sich freuen. Mit deutlich weniger Sorgfalt als der Botenjunge bewiesen hatte, stopfte er das Pergament irgendwo in seine Westentasche, streckte den Arm aus und ließ die ritterliche Pranke auf die erste Schulter sinken, die ihm entgegenkam.
„Sag meiner Frau, dass ich heute Abend weg bin und sie Biarne vorher noch ein bisschen Zielwasser ausgeben soll. Sie weiß, was ich meine.“ Schwungvollen Schrittes, flatternden Mantels und mit einem Gesicht, als wären die Sturmwolken und die eisig kalten Nieselregelntropfen, die ab und zu wie kleine Mittelfinger aus den Wolken fielen, strahlendster Sonnenschein und angenehmer Sommerregen, beeilte sich Riordan durch Boralus‘ Straßen.

Irgendwo nach den ersten Metern fiel der Glimmstängel aus seinen Fingern und schwelte zwischen Bordstein und Kante, vergessen, bis eine Kutsche einen Schwall Brackwasser über ihn ergoss und die Glut erlosch.

War fast schon Zeit für die Flut.

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