Während sich mehr und mehr Grafschaften, Baronien und was nicht sonst noch seine Truppen gegen die Invasoren Cordbergs ins Feld schicken wollte, zusammenrotteten, lag der Elwynn ruhig und beinahe beschaulich dar. Von all dem Heranschaffen kriegswichtiger Vorräte auf Karren oder Mannsrücken, dem Schärfen der zahllosen Klingen und dem Erproben des eigenen Geschicks an Attrappe und Mitstreitern gleichermaßen bekam man hier, am Rande einer Lichtung inmitten des mehrheitlich kahlen Waldes, nichts mit. Kein Klirren von Stahl auf Stahl, kein Poltern von Hufen auf gepflasterter Straße und auch keine Gespräche über den bevorstehenden Krieg störten die andauernde Ruhe.
Der Wind strich in sanften Böen durch die Wipfel der schlanken Buchen und Linden, umspielt die mächtigen Stämme der uralten Eichen und kitzelte auch Schwarzdorn und Brombeersträucher am Boden. Ein bleigrauer Himmel hing über der Szenerie, die Wolken strebten fast eilends dem Horizont entgegen. Es schien, als wolle jede einzelne von ihnen dem Elwynn und der Hauptstadt der Allianz so schnell wie möglich den Rücken kehren. Nur dann und wann entließen sie ein paar Schneeflocken aus ihrer Mitte, die trudelnd den Weg hinab zur Erde antraten, um sich dort als sanfter Film über die Landschaft zu legen. Einige von ihnen wurden aufgehalten durch die Dächer und Mauern der Stadt und sollten schmelzen oder zertreten werden, ohne je richtigen Erdboden erreicht zu haben. Andere landeten auf den Ästen der Bäume weit draußen, manche verfingen sich in den dornenbewehrten Armen der Brombeeren und einige wenige küssten das dunkelblonde Haar einer Jägerin, die seit einer kleinen Ewigkeit reglos in dem nackten Wipfel einer alten, knorrigen Eiche ausharrte. Ohne Klage und Wehe schmolz die kleine Flocke dahin, als hätte es sie nie gegeben.
Charlie West genoss das geduldige Ausharren an diesem kühlen Wintertag. Der breite Ast bot ihr eine mehr als angenehme Rastmöglichkeit und offenbarte dabei gleichzeitig einen hervorragenden Blick auf all die Äsung, die sich im Laufe des Sommers auf der von Holzfällern geschlagenen Lichtung breitgemacht hatte. Was zuvor noch in kleinen Gruppen zwischen den nun gefällten Bäumen gewachsen war, hatte Sonnenlicht im Überfluss erhalten und sich bald zu einem dichten, griffigen Teppich aus Ranken und Dornen vereint. Für Menschen war es irgendetwas zwischen einem Hindernis und einem unangenehmen Stachel in der Haut. Für Wildschweine hingegen war es eine reich gedeckte Tafel.
Die Gedanken der Jägerin kreisten um Cordberg. Wieder ein Kampf. Ein Krieg. Sie würde sich dieses Mal wohl zurückhalten, eher im Verborgenen agieren wollen. Je größer die Schlacht, desto größer die Chance, einem unerwarteten Streich zum Opfer zu fallen, einem Angriff, den man nicht hatte kommen sehen oder der vielleicht einmal für einen gedacht war. Nein, dieses Mal würde sie mit einer defensiven Einstellung am weitesten kommen – und am längsten leben.
‚Verdammt, hör‘ endlich auf, darüber nachzudenken‘, schalt sie sich selbst. Sie war nicht auf der Jagd, um dann doch in Zweifeln zu baden. Cordberg war die Kulmination von Ungewissheit, Unsicherheit. Sie wusste nicht genau, was sie und ihre Gefährten dort erwarten würde. Hier draußen hingegen, hier hatte sie alles in der Hand. Ein Gedanke, der ihr ein schiefes Lächeln auf die Lippen trieb. Dieses Wissen schuf ihr einen Ruhepol. Und doch dauerte es keine fünf Minuten, ehe ihr Denken wieder nach Cordberg driftete. Beinahe hätte sie sich bei der Frage ertappt, wie wohl der Rest des Hauses Stein in diesem Krieg zurechtkäme, da riss sie ein weit entferntes Knacken aus dieser nahenden Überlegung.
Die Augen ihres Begleiters erblickten Sauen, Wildschweine. Acht, neun, zehn. Elf. Waren das alle?
Schien so. Elf Sauen und die große dort, das musste ganz klar die Leitbache sein. Ein altes Tier, wach- und aufmerksam. Im Grunde spielte es kaum eine Rolle, welches der Tiere Charlie sich aussuchte, solange es nicht die Leitbache war. Alle anderen hatten entweder noch keinen Nachwuchs oder dieser war längst alt genug, um selbstständig zu überleben.
Ohne jegliche Hast griff der mit schwarzem Metall besetzte Handschuh nach dem Bogen, der neben Charlie auf dem breiten Ast lag. Die andere, rechte Hand legte den Pfeil ein und spannte die Sehne ein wenig. Ihre Bewegung war beinahe vollkommen lautlos, ein stummes Schauspiel in Zeitlupe.
‚Du da‘, entschied sie. Ein eher schwach wirkendes Tier, wenn auch nicht krank, sollte es sein. Quälend langsam spannte sie den Bogen, führte die Hand, die die Sehne hielt, zur Wange. Das tiefgrüne Auge nahm Maß. Kein Grund zur Eile, warum auch? Die Rotte fühlte sich sicher. Das Schmatzen und Grunzen des kleinen Festmahls drang mehr als deutlich an ihr gutes Gehör.
Sie atmete aus und schickte den Pfeil auf die Reise. Das Schwein fuhr zusammen, wollte nach vorne flüchten, knickte vorne ein und überschlug sich. Noch ein paar Mal schlegelten, strampelten die Läufe, dann erstarb die Bewegung mit dem Tier. Der Rest der Rotte war längst zwischen den Bäumen verschwunden.
Charlie zog die Maske herunter, die ihre Atemluft anwärmte und ihre allzu auffällige, menschlich-helle Haut vor guten Augen verbarg. Sie ließ ihrer Beute die Zeit, aus dem Leben zu treten. Eine Gewohnheit, die sie sich in Cordberg nicht mehr würde erlauben können.
Sie seufzte. Nicht daran zu denken, war schwieriger, als gedacht.