Nachdem Noroelles ihn allein gelassen hat, verweilt Idonir noch viele Minuten stumm am großen und schönsten Springbrunnen Silbermonds. Er weiß nicht, wann er den goldenen, filigranen Haarschmuck von seinem Gürtel gelöst hat; es war als wäre es einfach plötzlich wieder in seinen Händen gewesen. Idonirs Finger wandern über die geschwungenen Muster, die Blüten, Äste, Sonnen und Monde darstellen. Er erinnert sich noch ganz genau, wie stolz sein ältester Bruder ihm damals das Geschenk, das er seiner Geliebten machen wollte, präsentiert hatte. Lange hatte er seinen Sold gespart, um ihr das teure Schmuckstück kaufen zu können; ein Unikat, nur für sie gefertigt.
Idonir erinnert sich, als wäre es gestern gewesen, wie unsagbar verliebt sein Bruder gewesen war. So schrecklich verliebt, dass es kaum verwunderlich war, dass alles so ein tragisches Ende genommen hatte.
Er schüttelt die Gedanken daran ab. Das Schmuckstück in seinen Händen sollte nicht in seinem Besitz sein. Wenn es neben Vynrodan jemand haben sollte, dann die Familie Mondglut. Wenn Vynrodan es nicht als Andenken tragen konnte, dann sollten es Ilelens Eltern. Sie sollten daran erinnert werden, wie sehr ihre Tochter geliebt worden war.
Bei ihm machte es keinen Sinn. Es fühlte sich fast so an, als würde er den Haarschmuck beschmutzen.
Er entfernt sich von dem stetigen Plätschern des Brunnens, seine Füße finden den Weg fast von selbst. Lange war er nicht mehr hier gewesen, Idonir kann sich gar nicht an das letzte Mal erinnern. Es muss so viele, viele Jahre her sein. Damals, als noch keine Narbe des Todes das Hohe Reich schändete.
Idonir wusste nicht, ob je so eine schlechte Nachricht überbracht hat. Eigentlich war er kein Bote schlechter Omen. Eigentlich, war er das ganz und gar nicht. Sein Erscheinen sollte auch nicht mit Trauer in Verbindungen gebracht werden. Aber heute Abend hatte Noroelles ihm diese undankbare Aufgabe wohl aufgedrückt.
Er hatte überlegt, ob er das Schmuckstück einfach verkaufen sollte. Er wusste, dass es einen hohen Wert haben musste, aber den Gedanken hatte er wieder verworfen. Es hatte sich nicht richtig angefühlt.
Auch wenn Idonir oft genau das tat, was sich nicht richtig anfühlte.
Heute sollte jedoch eine Ausnahme sein. Vielleicht, weil er die Familie Mondglut immer geschätzt hatte. Idonir hatte Ilelen immer gemocht und sich oft gewünscht, dass sie Teil der Familie werden würde.
Das war nie passiert. Das Schicksal, oder wer auch immer, hatte es nicht gut mit ihnen gemeint.
Idonir fühlt sich zum ersten Mal unwohl zu so später Stunde die Nachtruhe jemand anderes zu stören. Dass ihm die Tür geöffnet wird, grenzt an einem Wunder.
Die Dame vor ihm wirkt nicht verschlafen. Sie sieht noch fast genau so aus, wie Idonir sie in Erinnerung hat, trägt nur eine andere Frisur und hat ein paar, aber nicht nennenswerte, Falten mehr bekommen.
„Idonesh“, nennt sie seinen Namen, die Gesichtsmimik überrascht.
„Tut mir Leid, dass ich zu so später Stunde noch störe“, fängt er an. „Ich möchte nicht lange stören. Habt Ihr einen Moment Zeit für mich, Lady Mondglut?“
Ihr Blick fällt auf das Schmuckstück in seinen Händen um im Gegensatz zu Idonir erkennt sie es sofort. Ihre Augen weiten sich und Idonir kann sehen, wie die Vorahnung sie beschleicht.
„Oh, mein Kind, sag mir nicht…“, fängt sie an und tritt zur Seite, lässt Idonir eintreten.
Er schließt die Tür hinter sich und ohne zu zögern, streckt er ihr das Schmuckstück entgegen.
„Vynrodan ist gefallen“, antwortet er leiser, als er es eigentlich geplant hat.
Aber selbst wie sehr er sich einredete, dass ihm der Tod nicht nahe gehen würde, sah die Wahrheit anders aus. Er war immerhin sein Bruder gewesen und es hatte mehr Jahr gegeben, in denen sie sich verstanden hatten, als Jahre, in denen sie nicht gesprochen hatten.
Die Sin’dorei öffnet ihre Lippen, streckt die Arme aus und nimmt das Schmuckstück entgegen. Idonir kann sehen, wie sich ich Blick trübt, wie die Trauer in ihr aufsteigt, die er noch von damals kennt.
Sie blinzelt, während sie mit einem wehmütigen Blick, der Idonir beinahe das Herz zerreißt, das Schmuckstück in den Fingern beäugt.
„Ihr solltet es haben. Es gehörte Ilelen und wenn er es nun nicht mehr bei sich tragen kann, ist es nur richtig, wenn Ihr es habt.“
Sie hebt den Blick von der Haarspange, tritt näher und zieht Idonir in eine feste Umarmung.
Idonir kann die Mondgluts von weitem erkennen. Und dort wo sie sind, erkennt er auch seine eigene Familie. Alle in schwarze Klamotten gekleidet, so wie Idonir selbst. Er kann die Trauer seiner Mutter, die vielen Meter bis zu ihm spüren und er weiß, dass es weder seinem Vater, noch seinem Bruder, entgangen ist, dass er ebenfalls hier ist.
Idonir hält sich dennoch weit von ihnen entfernt. Wegen ihnen ist er nicht hier.
Es sind so viele gekommen. Idonir kennt die meisten nicht. Nicht, dass das jetzt wichtig wäre. Zum ersten Mal ist er nicht hier um Kontakte zu knüpfen.
Er ist hier, weil Noroelles ihn gebeten hat. Und weil er hofft, dass es all die unschönen Gedanken, die er hat, vertreibt. Die letzten Begegnungen mit seinem Bruder waren nicht schön gewesen – zwar auch nicht schrecklich, aber keine die freudig in Gedanken blieben. Es schuldet Vynrodan etwas.
Idonir ist sich nicht sicher was genau, aber das hier ist das Mindeste.
Auch wenn alles in ihm wieder umdrehen will. Idonir will nicht hier sein. Nicht zwischen all diesen Leuten, nicht in der Gegenwart seiner Familie.
Er kehrt nicht um, schließt sich den Soldaten, Freunden und Trauernden an und weist den Gefallenen den letzten Respekt.
Idonir sieht Flammenstolz hinterher; nicht so lange, wie er es üblich tat.
Es kostet ihn viel Überwindung, sich erneut zum Schrein zu drehen und noch mehr Überwindung sich in Bewegung zu setzen. Er betrachtet nicht die leere Urne, oder die fremde Familie, die den Verlust ihrer Tochter betrauern.
Mit einem großen Schritt kommt er neben seiner Mutter zum Stehen. Sie steht schon lange dort, wortlos, immerhin weint sie inzwischen nicht mehr laut. Ihr verzweifeltes Schluchzen fühlte sich so falsch an. Wenn es jemand von seiner Familie verdiente glücklich zu sein, dann war es seine Mutter.
Ihre Augen sind rot unterlaufen, glasig und ihr Gesicht von den Tränen geschwollen, als sie zu ihm hochsieht.
„Ich bin so froh, dass du da bist“, flüstert sie mit schwacher Stimme und Idonir legt er eine Hand auf ihre Schulter, ehe er sich ein Ruck gibt und sie umarmt.
Seine Mutter, die ihm ihre schöne Nase vererbt hat, für die er inzwischen so bekannt ist, erwidert die Umarmung sofort, fest, verzweifelt und Idonir hofft, dass er etwas von ihrer Trauer verscheuchen kann.
Irgendwann löst er die Umarmung wieder, während er sich große Mühe gibt, nicht in die Richtung zu blicken, in der Anrothiel oder sein Vater stehen.
„Es tut mir so leid“, sagt Idonir dann und er ist froh, dass niemand, der ihn kennt in seiner Nähe ist. Es war selten, wenn er so ehrlich und vor allem so emotional sprach. Aber seine Mutter verdiente es nicht hier zu stehen und ihren erstgeborenen Sohn begraben zu müssen.
Es tut ihm aufrichtig leid sie so sehen zu müssen. Wie gern würde er ihren Schmerz vertreiben. Idonir will sie nicht weinen, nicht leiden sehen. Egal wie viele Dinge er ihr manchmal übel nehmen möchte. Das hier verdient sie nicht.
„Keine Mutter sollte ihr Kind bestatten müssen“, schluchzt sie.
Idonir greift um ihre linke Hand, drückt ihre Finger und bleibt stumm.
Keine Mutter sollte den Tod ihrer Kinder erleben.
Keine.
Doch auch das Wehklagen seiner Mutter vertreibt nicht die Gedanken, die er seit Noroelles Nachricht hat; die offensichtlich nicht nur ihm gekommen waren.
Er hofft, dass seine Mutter nicht die Umstände Vynrodans Tod erfahren hat. Diese hässliche Ironie soll ihr erspart bleiben.
OOC:
Danke an alle die gekommen sind. Besonders auch ein großes Dankeschön an Nelthariel und Neralyn fürs Organisieren. Es war sehr stimmig, bitter und traurig.