Der Tag bevor die Vulpera der Karawane der Nomaden der Sande krank werden
Chon hat Kikijo natürlich zugehört, als sie dem Vulperateenager erklärt, warum sie Fisch gegessen hat. Er nimmt die Schwarze in die Arme und drückt sie ein bisschen fiepender Weise. Chon zeigt, in seiner vergebenden Art, keine Anzeichen von Groll, aber spricht auch kein Wort des Pardon aus. Sein Lächeln verrät ihr, dass er ihr keine Schuld gibt, aber es vergeht noch eine Weile, bis er sich dazu verbal äußert.
„Dich zu rechtfertigen ist nicht nötig gewesen, Kiki, aber ich bewundere deine Offenheit mir gegenüber. Mama hat euch auf unsere Bitte hin dazu aufgefordert, für die Dauer einer Reise, auf Fleisch zu verzichten. Asra und ich wollten gerne sehen, ob ihr bereit seid es zu versuchen.“
Chon will seine bildhübsche Freundin nicht mehr ganz so eng halten und ihr dafür das Ohr streicheln. Augenkontakt kann er gerade nicht aufrecht erhalten, aber er sieht nicht überrascht oder enttäuscht aus.
„Du hast keinem von uns versprochen auf Fleisch zu verzichten…“
Der Blonde sieht sich um und versichert sich, dass sie nicht belauscht werden.
„…und wir haben im Karawanenrat eh nichts beschlossen. Es ist nur eine verbindlich formulierte Bitte.“
Er schaut auf den Boden vor ihr.
„Aber wenn du von dir aus eines Tages für dich entscheiden magst auf den Genuss von Fleisch zu verzichten, oder diesen zu reduzieren, helfe ich dir gerne, wenn du willst.“
Diesen Tag über achtet Chon bewusst darauf, was Kikijo isst, aber wird sich in keinster Weise wertend äußern, wenn es nicht seiner Ernährung entspricht.
Heute Vormittag sieht Chons Zwillingsbruder Asra sehr glücklich aus und wann immer es geht, will er mit Yaavi Händchen halten. Dass seiner Freundin das Gedicht, dass er für sie diese Nacht gereimt und aufgeschrieben hat, gefällt, beflügelt den Teenager und es könnte anstecken. Gelegentlich kommt er zu ihr herüber beißt ihr verknallt ins große Ohr, flüstert ihr etwas zu oder zeigt ihr erstaunliche, hübsche Dinge, und sei es nur ein Stück glänzendes Altmetall, das der helle Vulpera mit den riesigen Ohren in der Nähe des Lagers sieht. Er greift Yaavi unter beiden Ohren und will den innigen Kuss vom Morgen wiederholen. Asra ist voller Energie.
Die Sonne geht unter und Asra kommt irgendwann im Laufe des frühen Abends auf Chon zu, um ihn zu sprechen. Asra war mit der Gruppe Vulpera im Umland unterwegs auf Nahrungssuche. Sie sehen beide in der Entfernung Anoya meditieren. Die weiß glühenden Verzierungen ihres Totem und die abgesenkten Ohren verrieten ihnen, dass sie nichts mitbekommt. Insbesondere Chon, der selbst als Schleicher die Tricks kennt und als Wache recht aufmerksam ist, überprüft die Umgebung unauffällig, aber gründlich, bevor er irgendetwas Vertrauliches ausspricht.
„Chon, warum antwortest du mir nicht.“
fragt Asra seinen Zwillingsbruder mit nach unten gedrehten Ohren.
„Chon?“
Er reagiert zögerlich.
„Es tut mir leid.“ flüstert der mit dem grünen Schal und greift sich verräterisch hinein.
„Du hast es ihr gesagt?“
„Es ist meine Schuld.“ fährt er fort in seiner Entschuldigung den Schal nun gänzlich knautschend.
„Aber unser Geheimnis ist bei ihr sicher. Sie würde es nicht gegen uns verwenden. Und Kikijo weiß nichts von dir.“
„Vielleicht kann sie es sich denken?“
Sie schweigen beide unbehaglich lang, holen gleichzeitig Luft um etwas zu sagen, aber tun es dann doch nicht.
„Warum verlangt Mama von dir, dass du es ihr verrätst? Ich verstehe es nicht.“
„Ich auch nicht.“
„Yaavi ist nicht wie Kiki.“
„Sie haben beide ihre Dämonen, Chon.“ sagt Asra und will mit beiden Pfötchen nach Chons Pfote greifen und zusammen mit dessen grünen Schal halten. Diesem stockt der Atem ob Asras kühner Behauptung über Kikijo und Yaavi, als sei das etwas, das auszusprechen ungehörig ist.
„Es ist geschehen bevor wir Yaavi kannten. Noch bevor wir frei wurden, aber allein, dass wir hier stehen und abwägen, was zu tun ist, sollte dir deutlich aufzeigen, dass wir beide Zweifel haben, dass sie es gut vertragen wird, Asra.“
Chon macht kurz Pause und flüstert hinterher: „Es tut mir leid.“
Der Zwilling mit dem weißen Schal lässt seine Pfötchen an Chons Pfote und Schal, aber die Arme schwach hängen. Er sieht nach unten weg und ergänzt Chons Argumentation: „Sie erholt sich noch von den Strapazen mit der Teufelsmagie.“
Und dann klingt er richtig gequält als müsse er gleich Weinen: „Aber Mama hat es befohlen. Sie sagt, dass ich es muss.“
Chon nimmt seinen Bruder in die Arme und kann sich auch ein Tränchen nicht verkneifen. Es vergeht ein Weilchen bis sie sich wieder voneinander trennen können und zu ihren Freundinnen ins Zelt und Wagen schleichen, um zu schlafen, falls diese auch da sind.
Es wird Nacht und das weiße Mondlicht funkelt in den Bergen aus Altmetall reflektierend wie das Eis eines Gletschers.
„Asra! Asra, wach auf!“
Asra brummt und kuschelt sich tiefer in Yaavis silberfuchsfarbenes Fell hinein, die Ohren weggedreht von der nächtlichen Ruhestörung.
„Asra, steh auf! Sofort! Vindis ist krank.“
Es hat keinen Zweck. Inzos ernste Stimme ist zu hartnäckig. Asra zieht tief Luft durch die Nase ein als er erwacht, streckt seine dünnen Glieder von sich und gähnt.
„Tut mir leid. Ich komme sofort.“
Aber Inzo, der Mystiker der Karawane ist unlängst wieder zum Familienzelt zurückgekehrt. In seiner gebieterischen Art, hat Inzo auf direkte Weise bekannt gemacht, was er vom Apotheker der Karawane erwartet und ist, in Verlangen auf Ausführung seiner berechtigten Anliegen, zum Vulperaknaben Vindis zurückgekehrt. Akemy ist sicher froh drum, denn Vindis mag sich zwar zügeln, aber wem will er etwas vormachen? Der arme Junge ist krank und braucht die Hilfe Erwachsener. Aber auch Nandis, der vom Licht, das von der Laterne, die am First gleich neben einem Bild, das Vindis gepinselt hat, aufgehangen wurde, aufgewacht ist, fordert die Aufmerksamkeit seiner Eltern. Sicher muss der Vulperasäugling nicht lange warten, bis er von Akemy bekommt, was er will. Milch.
Asra hat sich nur schnell seine kurze Hose angezogen. Der blonde Vulpera kommt, vielleicht unter den Augen der wachhabenden Sandklingen, also Vulperakarawanennachtwächtern, mit verlegenem Fell ans Zelt, aber anstatt unhöflich einfach einzutreten, kündigt er sich mit abgesenkten Ohren an.
„Ich bin es. Asra. Darf ich hereinkommen, bitte?“
„Komm rein!“ Dringt die recht bestimmte, aber nicht übermäßig laute, Antwort von Inzo an die großen Lauscher des blonden Vulpera.
Er zieht den Zelteingang auf und kommt herein. Das erste Mal, dass er im Familienzelt vom Ehepaar Akemy und Inzo ist. Asra fällt auf, dass es nicht nur ein Schlafplatz für die Familie ist. Die vielen Dinge und vollen Behälter sprechen davon, dass dies ein Zuhause für eine Familie ist, die eigentlich inzwischen den Platz eines Wagens für sich alleine benötigt. Asra steigt über das gefaltete Laken und die aus dickem Karton ausgeschnittenen Figuren, die Inzo am vorausgegangenen Abend verwendet hat, um Nandis und Vindis mit einem Schattenspiel vor dem Schlafen gehen zu unterhalten. Es war auch diesen Abend wieder eine Erzählung aus der Geschichte der Seeglas-Karawane. Wenn sich Vindis aus Neugier mal eine der Figuren angeschaut hat, hat er sicher bemerkt, dass Inzo diese aus alten Schriftstücken ausgeschnitten hat, die er wohl nicht mehr brauchte. Noch immer sind ganze Sätze auf den Seiten der Figuren zu lesen.
„Wie geht es dir Vindis?“
Asra wagt es nicht in Gegenwart von Akemy und Inzo auch nur eine Sekunde lang Vindis in die Augen zu sehen. Er hört sich so gut es, mitten in der Nacht und aus dem Schlaf gerissen, geht Vindis Beschwerden an.
„Seit wann hast du Bauchschmerzen?“
„Wo tut es weh?“
„Wie stark sind die Schmerzen?“
Fragt Asra durch und stellt schließlich einen für beide Vulpera sehr schweren, aber notwendigen Wunsch: „Darf ich deinen Bauch abtasten? Sag es mir bitte, wenn es wehtut.“
Asra macht dann Anstalten dem Vulperajungen seinen zu untersuchen.
„Ich glaube, dass du etwas Schlechtes gegessen hast. Tut mir leid, Vindis.“
Asra merkt wie Inzo und Akemy ihn anstarren. Der junge Apotheker muss dafür nicht aufschauen. Unterwürfig hat er sich gebückt hingesetzt und die Ohren weggedreht, während er den Boden anschaut. Mit beinahe zittriger Stimme schlägt Asra vor eine Medizin zu holen und einen Heiltee aufzusetzen.
„Deck dich wieder zu, Vindis.“ Ermahnt Inzo den Jungen freundlich, aber entschieden, und würde ihm selbst die Decke bis zu den Schultern über den Leib ziehen.
„Asra bringt dir etwas. Gleich geht es dir besser.“
Der kleine, dünne Teenager hat nicht mitbekommen, dass sich währenddessen Ruka aus dem Lager geschlichen hat und von Mae Linn Samtpfote leckere Nudelsuppe mit Fisch zu essen gemacht bekommt. Welch ein Nachtmahl, das Koyu und Pixori gerne zusammen mit Mae Linn und Ruka, im kleinen Lager des Nudelwagenteams, genießen dürfen. Ein Glück, dass sie oft den Nomaden der Sande nachreisen, wenn sie nicht auf einen Markt müssen.
Derweil legt Asra im Lager der Nomaden der Sande noch etwas Brennholz bei der Feuerstelle, in die Glut, um das Feuer neu zu entfachen. Auf einem der flachen Steine am Feuer steht sein gußeiserner Teekessel und auf einem Holztablett liegt bereits sein Mörser und Stößel sowie ein Apothekergläschen mit Kraut, dessen Etikett im Dunkeln jedoch keiner lesen kann.
Plötzlich bewegen sich seine Ohren wie von selbst. Er hört Sikari in ihrem Zelt seufzen und jammern. Leise, aber mit seinen riesigen Ohren gut zu vernehmen. Betroffen legt er die Ohren an und will sie schüchtern lieber nicht stören. Das braucht er auch gar nicht, denn er sieht, wie die Vulpera Teenagerin plötzlich, mit vorgehaltener Pfote vor der Schnauze, aus ihrem Zelt stürmt und sich leider hinter diesem übergeben muss.
Asra formt ein stummes „Tut mir leid.“ mit den Lefzen, hebt eine Pfote in Sikaris Richtung und schaut kurz sogar aus, als wolle er ihr helfen kommen, als er bemerkt, dass jemand im Zelt direkt neben Sikaris, ein Licht entzündet hat. Die Silhouette einer größeren Vulpera, mit sichtlich mehr Muskeln und Fleisch auf den Knochen, als bei Sikari, ist dabei zu erkennen, wie sie den Ausgang sucht und schließlich herauskommt. Asra wendet furchtsam-devot seinen Blick von Meehri ab, die aufgestanden ist, um Sikari beizustehen.
„Hana, geht es dir nicht gut?“ fragt Asra flüsterleise die junge Vulperafrau, als diese nun auch unter Bauchschmerzen erwacht sein muss, sich zum Strand schleppt.
Er fiept kaum hörbar hinterher „Ich habe Medizin.“ und hebt das Apothekergläschen an, aber lässt die Ohren dabei schuldbewusst hängen, als sei er persönlich für die grassierenden Magenbeschwerden in der Vulperakarawane verantwortlich.
Völlig übermüdet kümmert sich Asra noch in der Nacht darum, dass alle, etwas vom Flitzdisteltee gegen Magenbeschwerden und Durchfall bekommen und wenn die Vulpera möchten auch von der trockenen Flitzdistel selbst.
„Du musst das zerkauen. Keine Sorge, ich habe alle Dornen abgemacht. Aber nicht das Kraut runterschlucken, bitte. Und langsam kauen, ja? Die Flitzdistel ist trocken und hart. Du könntest dir am Zahnfleisch wehtun. Tut mir leid.“
Zuerst will er es Vindis anbieten, da er Inzo und Akemy schon warten lässt. Danach kümmert er sich aber zuerst um Cahyenne. Für sie hat Asra eine besondere Aufgabe, mit der sie ihm helfen kann. Danach sind gegebenenfalls Tammikuu, falls er auch Beschwerden hat, und Mirakesch, dran damit die beiden ihm helfen können die Arznei zu verteilen. Die Flitzdistel ist alt. Fast ein Jahr hat sie im Apothekergläschen gelegen. Die Dosierung muss entsprechend ein bisschen höher sein. Der bittere Geschmack von Wiese und Acker der grünen Teile sind jedermanns Sache, aber die ebenfalls trockenen, lila Blüten, sind voller Nektar. Diese Blüten hat Asra nicht gleich verabreicht, sondern gibt sie unter Anleitung an Cahyenne. Vielleicht muss sie sich dafür aber Hilfe von Sikari oder Zutaten von Mae Linn Samtpfote holen.
„Ich hab hier ein Rezept aufgeschrieben, Mama.“
Fängt Asra an und gibt Cahyenne, wenn sich ihr Bauch ein bisschen beruhigt hat, das Apothekergläschen mit den Flitzdistelblüten darin.
„Das habe ich schon vor Ewigkeiten im Brachland abgeschrieben. Ist von einer Tauren. Das soll honigsüß schmecken und ich hoffe es beruhigt auch die Mägen.“
Asra liest vor, was auf dem an den Büttenrändern vergilbtem Papier steht: „Ein Teil Zucker mit zwei Teilen Wasser aufkochen und über zwei Handvoll frisch gezupfter Blütenkörbchen gießen und an einem kühlen Ort ziehen lassen. Dann abseihen und mit einem Geliermittel verarbeiten.“
Asra ist gestresst und müde. Er quietscht gequält auf und braucht eine Umarmung, wie man leicht merkt.
„Ich habe keine frischen Flitzdisteln, Mama.“
Er schaut auf das Apothekergläschen. Nimm lieber drei Handvoll Blütenkörbchen, bitte.
„Es tut mir so leid.“ Winselt Asra und klingt als würden seine Nerven blank liegen, den Tränen nahe.