Feraziel
Es war kein schöner Tag. Schwere dunkle Wolken bedeckten den Himmel und ergossen sich unbarmherzig auf die lordaeron’schen Wälder unter ihnen. Wie eine monotone Sinfonie der Trostlosigkeit, die sich harmonisch in die unbarmherzige Vergänglichkeit des einst so lebendig blühenden Reiches einfügte. „Wie Bluttropfen“, dachte Feraziel. Wie Bluttropfen, die die Wärme und die Essenz des Lebens selbst bilden. Wie Bluttropfen, einer geschlagenen Wunde entrinnend, die die Kälte und den Tod bringen. Wie Bluttropfen bahnte sich der Regen seinen Weg, den Tod begrüßend. „Weh mir, die aus diesem geboren“ seufzte sie melancholisch, ein Reflex, der sich erhalten hatte. Der Tod des Einen, ist das Leben des Anderen. Was für den Lebenden ein tröstendes Symbol des ewigen natürlichen Kreislaufs und Gleichgewichts sein mag, mutet der Untoten voll bitterer Ironie an. Denn ihr Tod schafft kein neues Leben, ihr Leichnam nährt keine Böden, Felder und Wälder, mit allem was da kreucht und fleucht. Ihr Tod bedeutet nur Leid und Qual und ein widernatürliches Dasein. Wieder seufzte sie, in ihren Gedanken verloren. Da sah sie sich auf einmal mit 8 giftig grünen Augen konfrontiert, die den Regentropfen gleich dem Laubwerk entsprangen. Würde ihr Herz noch schlagen, hätte ihr dies bestimmt einen Aussetzer vor Schreck beschert.
„Faoliel“, sprach sie die vorlaute kleine Spinne an, die sich gerade dran machte, spielerisch anmutend nach ihrem Haar zu angeln. Zumindest hoffte Feraziel, dass dies auch wirklich ihre Absicht war und nicht etwas anderes… die riesigen Knochenspinnen waren nicht gerade friedfertig. Und auch, wenn Foaliel noch klein war, war „klein“ eine Frage der Definition. Ihr Körper maß jetzt schon mehr als eine Elle und war damit größer als ein menschlicher Kopf. Von ihrem Gift und den Mandibeln, die bei den erwachsenen Tieren selbst Knochen mühelos durchbeißen konnten, ganz abgesehen. Sie streckte der kleinen Spinne den Arm hin, was diese mit einer eindeutigen Drohgebärde beantwortete. Feraziel seufzte. Warum die Meisterin ihr dieses „Geschenk“ machen musste, verstand sie einfach nicht. Jetzt war sie für dieses Tier verantwortlich und konnte weder damit umgehen, noch wusste sie, was sie damit sollte. Aber das Licht bewahre, dass der kleinen Spinne unter ihrer Obhut etwas geschah! Da verstand die Meisterin keinen Spaß! Spinnen, und gerade ihre Knochenspinnen, waren ihr heilig. So mancher unglückliche Lehrling war schon bewusst diesen zum Fraß vorgeworfen worden. Und manch anderer starb eines grausamen endgültigen Todes, weil er es an Sorgfalt missen ließ oder auf andere Art enttäuschte. Und letzteres war eher die Regel, denn die Ausnahme. Bestimmt mit ein Grund, warum die Totengräber und Offiziere gerne die „nutzlosen“ Kandidaten der Verlassenen hierher schickten. Auch Feraziel war eine dieser nutzlosen neuen Untoten, für die kein Platz war, und die sich durch nichts auszeichnen konnten. Sie hatte Glück gehabt hierher „entsorgt“ zu werden und nicht wie der Rest in der Schlacht um Unterstadt gezielt geopfert zu werden. Ihr Blick schweifte zu der großen brachen Narbe am Horizont, deren giftgrün verseuchter Schleier selbst durch die schweren regenverhangenen Wälder noch weithin sichtbar war und das eh schon gemarterte Land seitdem wie eine schwärende, mahnende Wunde prägte. Sie hatten große Verluste erlitten.
Wieder schoben sich die penetranten giftgrünen Augen in ihr Sichtfeld, offensichtlich um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Denn sobald Feraziel Faoliel ansah, stob die kleine Spinne durch das Blätterdach halbwegs trockenen Beines davon in Richtung des kleinen Verschlags, welcher als Werk-und Schlafstatt diente. Sie zog ihren verschlissenen Umhang enger und machte sich auf den Weg. Sie spürte die Nässe und Kälte des Regens nicht mehr so, wie ein Lebender sie verspüren würde, es stellte kein Unbehagen dar. Aber es weckte Gefühle von Schmerz, Angst und Hoffnungslosigkeit, erinnerte sie an ihr eigenes Ende, als ihr Leben und all die Wärme diesen Regentropfen gleich aus ihr herausrann, ihren Leib und den Boden tränkte.
Auf halbem Weg kam ihr ihre Meisterin schon entgegen, mit Faoliel, halb auf dem Arm, halb auf der Schulter sitzend. Ihre beiden ausgewachsenen Lieblingsspinnen im Schutze der Schatten auf den Fuß folgend. Auch diese beiden waren Knochenspinnen, riesig, ihre harten Chitinpanzer und Auswüchse erinnerten an Knochensubstanz, welche der Art ihren Namen einbrachte. Furchterregende und gefährliche Tiere, die sich durch eine natürliche recht hohe Immunität gegen die Seuche auszeichneten. Sie wurden und werden selten gezähmt, nur wenige sehen in ihnen Nutzen und Verwendung. Bis auf ihre Meisterin und ein paar dunkle Waldläuferinnen des Hügellandes hatte Feraziel noch von niemandem gehört, der sich das freiwillig antat. Einer der riesigen Leiber schob sich an ihr vorbei, sie erschauerte. Zu oft hatte sie gesehen, wie schnell, wendig und tödlich diese waren. Und wie unkontrolliert. Ihrer Meisterin entlockte dies ein dumpf schauriges Lachen. Feraziel wunderte sich immer wieder, dass ihre Meisterin sie noch nicht umgebracht hatte, oder eine dieser Kreaturen. Sie hatte sie einmal gefragt, dafür jedoch nur eine weggeworfene und völlig unlogische Antwort erhalten, die einfach keinen Sinn ergab. Die Meisterin mochte, dass sie intelligent und „so schön sterblich“ war. Doch ist dies für einen Untoten kein sonderlich erstrebenswerter Zustand. Im Gegenteil. Führt dies doch nur zu nie enden wollenden Qualen und zerreißt das letzte bisschen Selbst. Oder führt aufgrund des Mangels und der Inakzeptanz der nekromantischen Mächte zu noch schnellerem Verfall. Auch Moral, Ethik und ein Gewissen sind keine gewünschten Eigenschaften eines treuen Soldaten der Verlassenen.
Die Meisterin warf Feraziel eine lederne Handwerkstasche zu und riss sie damit aus ihren Gedanken. Sie wateten zusammen durch den mittlerweile knöchelhohen Morast in Richtung der nordöstlichen Schlucht um ihrem Tagewerk nachzugehen. Beide waren in grobe verschlissene Umhänge gehüllt, die sie im grauen Regenschleier der Wälder quasi unsichtbar machten. Durch die Schatten folgten die beiden treuen Spinnentiere.
„Du musst lernen mit Faoliel klar zu kommen, und zwar eher, als dass er groß genug ist dich zu fressen.“ Stellte die Meisterin nüchtern fest. Darauf erwartete sie keine Antwort, also schwieg Feraziel. Der Weg wurde schmaler, die Bäume standen immer dichter und der Weg fing an sich einen zerklüfteten Pfad hinab in eine kaum einsehbare Schlucht zu winden. Das Rauschen und Tosen des Regens lies nach. Hoch oben in den Baumkronen zeichneten sich riesige Spinnengespinste ab, die ihn abhielten. Auch am Boden wurde es immer unzugänglicher. Immer wieder huschten große und kleine Körper durch die Gespinste, die beiden treuen Begleiter der Meisterin waren mittlerweile verschwunden, einzig Faoliel machte es sich nach wie vor halb auf der Schulter, halb auf dem Arm hängend bequem. Ein unmerkliches Zeichen der Meisterin und er wand sich in einem Augenblick ihren Umhang hinab und verschwand ebenfalls im Dickicht. Sie suchten sich ein Gespinst, das ihren Ansprüchen genügte und machten sich daran, bestimmte taugliche Fäden auf Spulen zu drehen. Später, wieder im Verschlag angekommen, würden sie diese weiter bearbeiten und verfeinern, mit Stoff, Leder und Metall ergänzen und zusammen mit den Überbleibseln der Chitinpanzer gewachsener oder getöteteter Knochenspinnen Rüstungen herstellen. Das Kunsthandwerk der Meisterin.
Für die Rüstungsherstellung an sich hatte Feraziel kein Händchen. Sie verstand auch nichts vom Zusammenspiel der Materialien oder den benötigten Anforderungen an Stabilität oder Härte. Aber sie hatte sich durch schnelle Reflexe beim Sammeln der Spinnenseide hervorgetan, die die Meisterin achtete. Und welche bisher verhindert hatten, dass sie selbst in einem dieser Gespinste landete, was schon so manchem Lehrling widerfahren war. Nicht alle der Spinnen tolerierten das Sammeln oder gar die Anwesenheit von etwas anderem als ihrer eigenen Art. Oft nicht mal diese.
„Du wirst Faoliel brauchen bei deinen jetzigen Fähigkeiten. Er wird wachsen und dir eine Hilfe sein.“ Feraziel stutzte. „Inwiefern sollte er mir eine Hilfe sein?“. „Er wird dich begleiten und auf dich aufpassen. Du wirst morgen nach Orgrimmar aufbrechen. Ich konnte einen Magier ausfindig machen, der zur Begutachtung der Truppenbewegungen im Osten gerade Tirisfal durchquert. Er wird sich nach Sonnenaufgang mit dir am Bollwerk treffen, dort löst er sich mit seinem Vorgänger ab und wird so oder so ein Portal erschaffen. Dieses kannst du also praktischerweise einfach mit durchqueren. Ansonsten würde die Reise Wochen bis Monate dauern.“ Die Meisterin sah Feraziel an, der die Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand. „Du hast hier keine Zukunft, das wissen wir beide. Und du taugst für die Arbeit hier nicht, bei der erstbesten Gelegenheit frisst dich einer meiner kleinen Lieblinge. Genausowenig taugst du für die Schlachtreihen der Verlassenen oder gar als eigenständiger Söldner oder dergleichen“. Die letzte Bemerkung lies die Meisterin wieder angsteinflößend auflachen, bevor sie ernst fortfuhr. „Du sagtest, man hat dich einst als Novize geschult. Kleines unschuldiges Ding. Such dir einen Meister, der sich deiner annimmt, ohne dich gleich endgültig umzubringen. Wende dich an die Pandaren in Orgrimmar, sie haben dort Botschafter, diese werden dir helfen, jemand geeigneten zu finden. Nimm auch mein Schlachtross mit, so mancher Weg ist länger, als er auf den ersten Blick erscheint.“ Feraziel wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte. Sie sah ihre Meisterin fragend an. Suchte nach Worten und nach der Bedeutung dessen, was die Meisterin ihr gerade gesagt hatte. „Ich verstehe nicht recht… ich bin dankbar bei Euch zu sein“, und lebendig, dachte sie im Stillen, „warum schickt Ihr mich nach Orgrimmar? Warum soll ich dort ausgerechnet nach Pandaren suchen?“. „Dummes Ding. Nach allem was du mir von dem erzähltest was man dir beibrachte, beruhte deine Ausbildung auf den Lehren der Pandaren. Ich sah einst ihre Mönche und kämpfte schon mit jenen, die bei ihnen Ausbildungen genossen. Derjenige, der dich ausbildete, wird diese Grundlagen verwendet haben. Anders sind deine Fähigkeiten und Reflexe kaum erklärbar, da sie nicht auf unseren hießig geläufigen Ausbildungsmethoden beruhen. Sie sollten dir auch von ihrer… ‚Gesinnung‘ mehr entgegen kommen und dich nicht in einen solchen Zwiespalt im Untod stürzen. Vielleicht findest du auf diese Art einen Weg, mit deiner Exitenz ins Reine zu kommen. Und jetzt schweig! Du gehst, das ist beschlossen.“
Als die Dämmerung hereinbrach traten sie voll beladen den Rückweg an. Feraziel wusste nicht, was sie von all dem halten sollte. Ob sie wirklich aufbrechen sollte, ihrer Meisterin gehorchen. Sie hatte noch nie Tirisfal verlassen, nicht bewusst. Selbst andere Völker sah sie nur außerordentlich selten, nur wenige verirrten sich in die weiten durchseuchten Reiche. Elfen waren dabei noch das häufigste und die Schlacht um Unterstadt, mit der Anwesenheit der großen völkerreichen Heere, war ihr erspart geblieben. Ihre Meisterin hatte Recht, sie war ein unschuldig dummes Ding.
Sie sah sich um und betrachtete nachdenklich den Mond, der im Norden aufging. Im Norden, wo auch das scharlachrote Kloster lag. Jenes Kloster, in einer dessen Enklaven sie damals, mit noch schlagendem Herzen, als Novizin ausgebildet worden war. Ihre Eltern hatten sie dorthin geschickt, sie tat sich schon damals wenig hervor, also sollte dies der Weg sein, zumindest nicht nutzlos durchgefüttert zu werden. Den wahren Glauben an das Licht zu erlangen und das Leben zu schützen, die Menschen zu schützen vor der unnachgiebigen Geißel. Doch ohne den wahren Glauben war das Wirken und Nutzen der Macht des Lichts nicht möglich. Ihre Art Dinge zu hinterfragen unerwünscht und lästig. Auch hier war sie schnell als unnütz angesehen und man teilte sie einer Enklave zu, die nicht mit Schwert, Lanze, Stab und Licht kämpfte, sondern einer neuen Technik des waffenlosen Kampfes, für den Körperbeherrschung und Schnelligkeit unabdingbar waren. Sie hatte nie hinterfragt, wo diese Lehren herkamen. Sie lernte das, was man sie lehrte, wollte nicht am Ende auch noch dieser Enklave verwiesen werden, erneut enttäuschen und ihrer Familie restlos Schande machen. Und obwohl sie sich durchaus positiv hervortat, war ihr Fanatismus und ihre Loyalität dem Licht und der Kirche gegenüber offensichtlich nicht das, was sich die Obrigkeit vorstellte. Man schickte sie mit anderen jungen und „untauglichen“ Novizen auf eine Erkundungsmission, die keine war. Sie waren nur ein Köder, willentliche Opfer, bedeutungslos. Selbst zu unbedeutend, dass man ihre noch blutenden sterbenden Körper, aufgeknüpft und geschunden, sich selbst und dem Untod überließ. Sie würde nie vergessen, wie ihre einstigen Brüder und Schwestern sich einfach abwanden. Wie jeder sich von ihr abwand. Immer. Unausweichlich.
Im Leben. Im Tod. Im Untod.
Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, nahm Feraziel schweigend das Schlachtross, auf dessen Kruppe Faoliel es sich schon irgendwie hinter dem alten Sattel bequem gemacht hatte, insofern man dies für eine Kreatur wie ihn überhaupt sagen konnte. Sie schlug sich wieder in ihren alten Umhang und stieg auf. Die Meisterin trat aus den Schatten und schlug dem knochigen Ross beherzt an die Flanke, was daraufhin einen Satz tat, der Feraziel fast wieder zu Boden beförderte. Wieder lachte die Meisterin ihr schauriges Lachen. Die Sonne bahnte sich einen Weg durch die Wolkendecke und die Baumkronen und tauchte den Wald in eine neblig mystische Landschaft, derer man all ihr Leid und ihre Hoffnungslosigkeit bei diesem Anblick fast vergessen könnte. Es war ein schöner Tag.